Warum mit Selbstzeugnissen von Verfolgten arbeiten?
Die Geschichte von Verfolgungsprozessen aller Art wird bis heute oftmals hauptsächlich durch von Täter:innen hinterlassene Quellen rekonstruiert. In der Tat können diese Dokumente einen tiefen Einblick in die Planung und Durchführung der Verfolgung bieten. Doch wie etwa die Historiographie zur Geschichte des Holocaust in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, genügt es nicht, die Geschichtsschreibung eines Verfolgungsprozesses rein auf Täter:innenquellen zu stützen. Neben den individuellen Erfahrungen der Verfolgten wird durch den Fokus auf Täter:innenquellen die Komplexität von Verfolgungspraktiken verkannt. Ein bedeutender Name für diesen Perspektivwechsel innerhalb der Historiographie, durch den die Geschichte von Verfolgung nicht mehr nur von der Seite der Täter:innen, sondern auch der Seite der Opfer geschrieben werden soll, ist Saul Friedländer. Er hat für diesen den Begriff der „integrierten Geschichte“ geprägt.1 Im Folgenden soll im Anschluss an Friedländer kurz dargelegt werden, welche Erkenntnispotenziale in Selbstzeugnissen von Verfolgten liegen und wie man mit solchen Quellen arbeiten kann.
Welches Erkenntnispotential hat die Arbeit mit Selbstzeugnissen?
Durch die Arbeit mit Selbstzeugnissen von Verfolgten ergibt sich die Möglichkeit, die individuellen Erfahrungen der Opfer während des Verfolgungsprozesses herauszuarbeiten. Dazu können zum Beispiel ihre Hoffnungen, Ängste, Wahrnehmungen und Emotionen sowie ihr Alltag zählen. Oftmals sind die Bemühungen, innerhalb der schwierigen Lebensumstände eine Alltäglichkeit aufrechtzuerhalten, ersichtlich. All dies sind Aspekte, die wir aus den Dokumenten der Täter:innen nicht erschließen können. In ihnen bleiben uns die Lebenswirklichkeit, die Handlungsspielräume und die Zukunftsplanungen der Opfer größtenteils verborgen. Der Einbezug von Selbstzeugnissen gibt den Verfolgten gewissermaßen eine Stimme und ein Gesicht zurück. Eine erweiterte biographische Recherche macht somit eine ganze Lebensgeschichte sichtbar und reduziert die Opfer nicht auf eine Phase der Verfolgung.
Nicht zuletzt hilft uns die Perspektive der Opfer auch, Verfolgungsprozesse besser zu verstehen. So geben uns die hinterlassenen Quellen der Opfer oftmals viel tiefere Einblicke in das Verhalten von Kollaborateur:innen, von so genannten Bystander:innen und von Nachbar:innen, als dies andere Quellen tun können.2 Die Historiographie des Holocaust hat in den letzten Jahrzehnten gezeigt, wie groß die Abhängigkeit der Täter:innen von lokaler Mithilfe durch Institutionen, aber auch von Anwohner:innen war, die ihre Nachbarn aus Opportunismus, ideologischer Überzeugung und anderen Gründen denunzierten. Auf diese Weise können die Dynamiken von Verfolgungsprozessen auf der Mikroebene besser erschlossen und ein genaueres Bild der Praktiken von Täter:innen und der „Bystander-Community“3 (Mary Fulbrook) gezeichnet werden.4
Wie arbeitet man mit Selbstzeugnissen?
Das Grundwerkzeug für die Arbeit mit Selbstzeugnissen ist dasselbe wie für jede andere Quellenart in der Geschichtswissenschaft: eine spezifische an die Quelle gerichtete Fragestellung und die Quellenkritik. Diese wird unterteilt in die äußere Kritik, die sich mit der Herkunft der Quelle beschäftigt und in die innere Kritik, welche sich mehr auf den Inhalt der Quelle fokussiert.
Für die äußere Quellenkritik wird zunächst die Herkunft der Quelle bestimmt: Von wann stammt sie? Wo ist sie entstanden? Wer ist der oder die Verfasser:in? Besitzt die Quelle einen Adressaten oder eine Überlieferungsintention? Weshalb ist die Quelle entstanden? Und zu welcher Quellengattung können wir sie zuordnen?
In einem nächsten Schritt versuchen wir die Überlieferungsgeschichte der Quelle zu bestimmen: Ist der oder die angegebene Autor:in wirklich der oder die Verfasser:in? Wie wurde die Quelle überliefert? Gibt es mehrere Versionen, beziehungsweise Parallelüberlieferungen von ihr? Ist sie authentisch oder möglicherweise eine Fälschung? Ist die Quelle in Gänze überliefert oder fehlen Segmente der Quelle?
Anschließend unterziehen wir die Quelle der inneren Quellenkritik, also einer genauen inhaltlichen Analyse. Dafür erarbeiten wir zunächst den Inhalt und die innere Struktur der Quelle. In einem nächsten Arbeitsschritt versuchen wir so viel wie möglich über den biographischen Hintergrund des oder der Verfasser:in herauszufinden. Was für einen politischen/ sozioökonomischen/ kulturellen Hintergrund hatte der oder die Verfasser:in? War er oder sie Teil einer Institution oder Organisation? Welchen Anlass hatte er oder sie, die Quelle zu produzieren und an wen ist sie gerichtet? Was genau schildert uns der oder die Verfasser:in und was aber auch nicht?
Anschließend versuchen wir die Quelle in ihren historischen Kontext einzubetten: In welchem politischen/ sozialen/ gesellschaftlichen/ wirtschaftlichen Rahmen ist sie entstanden? Welche der zeitgenössischen historischen Prozesse werden durch den oder die Verfasser:in dargestellt und welche nicht? Was sagt es uns, dass manche Prozesse vielleicht auch bewusst nicht dargestellt werden? Wie lassen sich die Darstellungen der Quelle mit dem Wissen aus der Historiographie kontextualisieren?
Abschließend versuchen wir, die einzelnen aus der Quelle gewonnenen Erkenntnisse zu einer Interpretation der Quelle zusammenzuführen, die in Bezug zu der eingangs formulierten Fragestellung steht und die Kenntnisse aus der Geschichtsschreibung miteinbezieht. Auf diese Weise kann auch geprüft werden, inwiefern die Quellenarbeit neue Kenntnisse liefern und ein Korrektiv für die bisherige Geschichtsschreibung stellen kann.
Referenzen
- Ausführlicher hierzu siehe: Saul Friedländer, Eine integrierte Geschichte des Holocaust, in: Bundeszentrale für politische Bildung online, 23.03.2007, https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/dossier-nationalsozialismus/39637/eine-integrierte-geschichte-des-holocaust/, abgerufen am 06.12.2022.
- Zum Begriff der Bystander siehe: Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt am Main 2011, 5. Aufl. [11996].
- Zu Mary Fulbrooks Überlegungen einer „Bystander community“ siehe: Mary Fulbrook: Bystanders. Catchall Concept, Alluring Alibi, or Crucial Clue?, in: Christina Morina/ Krijn Thijs (Hrsg.): Probing the Limits of Categorization. The Bystander in Holocaust History, New York und Oxford 2019, S. 15–35.
- Als Beispiel der aktuellen Forschungen zur Mikrogeschichte des Holocaust siehe: Claire Zalc/ Tal Bruttmann (Hrsg.): Microhistories of the Holocaust, New York und Oxford 2017.