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Warum und wie mit Selbstzeugnissen arbeiten?

Text: Niklas Zodel

Warum mit Selbstzeugnissen von Verfolgten arbeiten?

Die Geschich­te von Ver­fol­gungs­pro­zes­sen aller Art wird bis heu­te oft­mals haupt­säch­lich durch von Täter:innen hin­ter­las­se­ne Quel­len rekon­stru­iert. In der Tat kön­nen die­se Doku­men­te einen tie­fen Ein­blick in die Pla­nung und Durch­füh­rung der Ver­fol­gung bie­ten. Doch wie etwa die His­to­rio­gra­phie zur Geschich­te des Holo­caust in den letz­ten Jahr­zehn­ten gezeigt hat, genügt es nicht, die Geschichts­schrei­bung eines Ver­fol­gungs­pro­zes­ses rein auf Täter:innenquellen zu stüt­zen. Neben den indi­vi­du­el­len Erfah­run­gen der Ver­folg­ten wird durch den Fokus auf Täter:innenquellen die Kom­ple­xi­tät von Ver­fol­gungs­prak­ti­ken ver­kannt. Ein bedeu­ten­der Name für die­sen Per­spek­tiv­wech­sel inner­halb der His­to­rio­gra­phie, durch den die Geschich­te von Ver­fol­gung nicht mehr nur von der Sei­te der Täter:innen, son­dern auch der Sei­te der Opfer geschrie­ben wer­den soll, ist Saul Fried­län­der. Er hat für die­sen den Begriff der „inte­grier­ten Geschich­te“ geprägt.1 Im Fol­gen­den soll im Anschluss an Fried­län­der kurz dar­ge­legt wer­den, wel­che Erkennt­nis­po­ten­zia­le in Selbst­zeug­nis­sen von Ver­folg­ten lie­gen und wie man mit sol­chen Quel­len arbei­ten kann.

Welches Erkenntnispotential hat die Arbeit mit Selbstzeugnissen?

Durch die Arbeit mit Selbst­zeug­nis­sen von Ver­folg­ten ergibt sich die Mög­lich­keit, die indi­vi­du­el­len Erfah­run­gen der Opfer wäh­rend des Ver­fol­gungs­pro­zes­ses her­aus­zu­ar­bei­ten. Dazu kön­nen zum Bei­spiel ihre Hoff­nun­gen, Ängs­te, Wahr­neh­mun­gen und Emo­tio­nen sowie ihr All­tag zäh­len. Oft­mals sind die Bemü­hun­gen, inner­halb der schwie­ri­gen Lebens­um­stän­de eine All­täg­lich­keit auf­recht­zu­er­hal­ten, ersicht­lich. All dies sind Aspek­te, die wir aus den Doku­men­ten der Täter:innen nicht erschlie­ßen kön­nen. In ihnen blei­ben uns die Lebens­wirk­lich­keit, die Hand­lungs­spiel­räu­me und die Zukunfts­pla­nun­gen der Opfer größ­ten­teils ver­bor­gen. Der Ein­be­zug von Selbst­zeug­nis­sen gibt den Ver­folg­ten gewis­ser­ma­ßen eine Stim­me und ein Gesicht zurück. Eine erwei­ter­te bio­gra­phi­sche Recher­che macht somit eine gan­ze Lebens­ge­schich­te sicht­bar und redu­ziert die Opfer nicht auf eine Pha­se der Verfolgung.

Nicht zuletzt hilft uns die Per­spek­ti­ve der Opfer auch, Ver­fol­gungs­pro­zes­se bes­ser zu ver­ste­hen. So geben uns die hin­ter­las­se­nen Quel­len der Opfer oft­mals viel tie­fe­re Ein­bli­cke in das Ver­hal­ten von Kollaborateur:innen, von so genann­ten Bystander:innen und von Nachbar:innen, als dies ande­re Quel­len tun kön­nen.2 Die His­to­rio­gra­phie des Holo­caust hat in den letz­ten Jahr­zehn­ten gezeigt, wie groß die Abhän­gig­keit der Täter:innen von loka­ler Mit­hil­fe durch Insti­tu­tio­nen, aber auch von Anwohner:innen war, die ihre Nach­barn aus Oppor­tu­nis­mus, ideo­lo­gi­scher Über­zeu­gung und ande­ren Grün­den denun­zier­ten. Auf die­se Wei­se kön­nen die Dyna­mi­ken von Ver­fol­gungs­pro­zes­sen auf der Mikroebe­ne bes­ser erschlos­sen und ein genaue­res Bild der Prak­ti­ken von Täter:innen und der „Bystan­der-Com­mu­ni­ty“3 (Mary Ful­brook) gezeich­net wer­den.4

Wie arbeitet man mit Selbstzeugnissen?

Das Grund­werk­zeug für die Arbeit mit Selbst­zeug­nis­sen ist das­sel­be wie für jede ande­re Quel­len­art in der Geschichts­wis­sen­schaft: eine spe­zi­fi­sche an die Quel­le gerich­te­te Fra­ge­stel­lung und die Quel­len­kri­tik. Die­se wird unter­teilt in die äuße­re Kri­tik, die sich mit der Her­kunft der Quel­le beschäf­tigt und in die inne­re Kri­tik, wel­che sich mehr auf den Inhalt der Quel­le fokussiert.

Für die äuße­re Quel­len­kri­tik wird zunächst die Her­kunft der Quel­le bestimmt: Von wann stammt sie? Wo ist sie ent­stan­den? Wer ist der oder die Verfasser:in? Besitzt die Quel­le einen Adres­sa­ten oder eine Über­lie­fe­rungs­in­ten­ti­on? Wes­halb ist die Quel­le ent­stan­den? Und zu wel­cher Quel­len­gat­tung kön­nen wir sie zuordnen?
In einem nächs­ten Schritt ver­su­chen wir die Über­lie­fe­rungs­ge­schich­te der Quel­le zu bestim­men: Ist der oder die ange­ge­be­ne Autor:in wirk­lich der oder die Verfasser:in? Wie wur­de die Quel­le über­lie­fert? Gibt es meh­re­re Ver­sio­nen, bezie­hungs­wei­se Par­al­lel­über­lie­fe­run­gen von ihr? Ist sie authen­tisch oder mög­li­cher­wei­se eine Fäl­schung? Ist die Quel­le in Gän­ze über­lie­fert oder feh­len Seg­men­te der Quelle?

Anschlie­ßend unter­zie­hen wir die Quel­le der inne­ren Quel­len­kri­tik, also einer genau­en inhalt­li­chen Ana­ly­se. Dafür erar­bei­ten wir zunächst den Inhalt und die inne­re Struk­tur der Quel­le. In einem nächs­ten Arbeits­schritt ver­su­chen wir so viel wie mög­lich über den bio­gra­phi­schen Hin­ter­grund des oder der Verfasser:in her­aus­zu­fin­den. Was für einen politischen/ sozioökonomischen/ kul­tu­rel­len Hin­ter­grund hat­te der oder die Verfasser:in? War er oder sie Teil einer Insti­tu­ti­on oder Orga­ni­sa­ti­on? Wel­chen Anlass hat­te er oder sie, die Quel­le zu pro­du­zie­ren und an wen ist sie gerich­tet? Was genau schil­dert uns der oder die Verfasser:in und was aber auch nicht?

Anschlie­ßend ver­su­chen wir die Quel­le in ihren his­to­ri­schen Kon­text ein­zu­bet­ten: In wel­chem politischen/ sozialen/ gesellschaftlichen/ wirt­schaft­li­chen Rah­men ist sie ent­stan­den? Wel­che der zeit­ge­nös­si­schen his­to­ri­schen Pro­zes­se wer­den durch den oder die Verfasser:in dar­ge­stellt und wel­che nicht? Was sagt es uns, dass man­che Pro­zes­se viel­leicht auch bewusst nicht dar­ge­stellt wer­den? Wie las­sen sich die Dar­stel­lun­gen der Quel­le mit dem Wis­sen aus der His­to­rio­gra­phie kontextualisieren?

Abschlie­ßend ver­su­chen wir, die ein­zel­nen aus der Quel­le gewon­ne­nen Erkennt­nis­se zu einer Inter­pre­ta­ti­on der Quel­le zusam­men­zu­füh­ren, die in Bezug zu der ein­gangs for­mu­lier­ten Fra­ge­stel­lung steht und die Kennt­nis­se aus der Geschichts­schrei­bung mit­ein­be­zieht. Auf die­se Wei­se kann auch geprüft wer­den, inwie­fern die Quel­len­ar­beit neue Kennt­nis­se lie­fern und ein Kor­rek­tiv für die bis­he­ri­ge Geschichts­schrei­bung stel­len kann.

Referenzen

  1. Aus­führ­li­cher hier­zu sie­he: Saul Fried­län­der, Eine inte­grier­te Geschich­te des Holo­caust, in: Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung online, 23.03.2007, https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/dossier-nationalsozialismus/39637/eine-integrierte-geschichte-des-holocaust/, abge­ru­fen am 06.12.2022.
  2. Zum Begriff der Bystan­der sie­he: Raul Hil­berg, Täter, Opfer, Zuschau­er. Die Ver­nich­tung der Juden 1933–1945, Frank­furt am Main 2011, 5. Aufl. [11996].
  3. Zu Mary Ful­brooks Über­le­gun­gen einer „Bystan­der com­mu­ni­ty“ sie­he: Mary Ful­brook: Bystan­ders. Cat­chall Con­cept, Allu­ring Ali­bi, or Cru­cial Clue?, in: Chris­ti­na Morina/ Kri­jn Thijs (Hrsg.): Pro­bing the Limits of Cate­go­riza­ti­on. The Bystan­der in Holo­caust Histo­ry, New York und Oxford 2019, S. 15–35.
  4. Als Bei­spiel der aktu­el­len For­schun­gen zur Mikro­ge­schich­te des Holo­caust sie­he: Clai­re Zalc/ Tal Brutt­mann (Hrsg.): Micro­his­to­ries of the Holo­caust, New York und Oxford 2017.
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