Das Grundgesetz der Bundesrepublik garantiert seit 1949 politisch Verfolgten das Recht auf Asyl. Mit der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 versprach Westdeutschland darüber hinaus auch Allen Schutz, deren Leben oder Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bedroht wird.1 Obwohl keine Bundesregierung dieses liberale Asylrecht gänzlich umsetzte und der sogenannte „Asylkompromiss“ 1993 die Gruppe der Asylberechtigten stark einschränkte, wurde die Bundesrepublik so zum Zufluchtsort.2
Bis in die 1970er-Jahre baten vor allem Menschen aus osteuropäischen Staaten, danach zunehmend auch Menschen aus Asien und Afrika um Asyl. Welchen Anspruch hatten diese Menschen an Deutschland als Aufnahmestaat? Welche Erfahrungen machten sie in dem oft langwierigen Verfahren zur Prüfung ihrer Asylanträge, währenddem sie in Lagern untergebracht und versorgt wurden? Wie nahmen sie die Orte und Umstände wahr, in denen sie nach ihrer Flucht ankamen? Welche Strategien wählten sie selbst, um ihre Situation zu problematisieren?
Die wenigen zeitgeschichtlichen Arbeiten zum Asyl in Deutschland untersuchen diese Fragen zur Perspektive der Asylsuchenden nicht. Im Vordergrund stehen stattdessen die Asylpolitik und das Reden über Asylsuchende in der deutschen Öffentlichkeit.3 Das liegt auch an der Quellenlage. Asylpolitik und die öffentliche Debatte lassen sich anhand von öffentlich zugänglichen Zeitungen, Parlamentsdebatten und Akten nachvollziehen.4 Von Asylsuchenden selbst sind dagegen nur wenige schriftliche Zeugnisse überliefert, die sich eher verstreut in den privaten Archiven von Unterstützer:innen oder Organisationen finden. Dass sich die aufwendigere Suche nach solchen Selbstzeugnissen dennoch lohnt, zeigen exemplarisch zwei Briefe der algerischen Journalistin Habiba Saidi vom 7. und 8. Februar 2000, aus denen einerseits ihr Selbstverständnis als politisch verfolgte Aktivistin und Asylsuchende hervorgeht und andererseits ihre Erfahrung des Alltags in der Asylunterkunft.
Habiba Saidi kam im Frühjahr 1999 nach Thüringen und lebte zuerst in einem, in ehemaligen NVA-Kasernen, eingerichteten Erstaufnahmelager bei Mühlhausen, bevor sie im Oktober 1999 in den Thüringer Wald verlegt wurde. In einem früheren vormilitärischen Ausbildungslager nahe Tambach-Dietharz wohnte sie mit ihren beiden erwachsenen Söhnen in einem 12 m2 großen Raum, während sie zusammen mit etwa 600 weiteren Menschen auf eine Entscheidung in ihrem Asylverfahren wartete.5 Aus ihren Briefen geht nur wenig über ihr Leben als französischsprachige Journalistin in Algerien vor ihrer Flucht hervor. Seit 1991 wurde das Land von einem Bürgerkrieg zwischen der Regierung und der von Saidi als „Terroristen“ bezeichneten islamistischen Bewegung FIS zerrüttet, der in den Jahren vor ihrer Ankunft in Deutschland, 1997 und 1998, seinen grausamen Höhepunkt in mehreren Massakern an der Zivilbevölkerung fand.6 Saidi sah sich durch ihren Beruf als eine „hauptsächliche Zielscheibe der Terroristen“ und war deshalb geflohen.7
Das Lager bei Tambach-Dietharz, in dem Saidi ihre Briefe verfasste, war unter Asylsuchenden aufgrund der abgelegenen Lage im Wald und der Sicherheitsarchitektur, die an ein Gefängnis erinnerte, als einer der unmenschlichsten Unterbringungsorte in Deutschland bekannt.8 Geflüchtete lebten dort über mehrere Monate, zum Teil auch Jahre, hinter einem zwei Meter hohen, mit NATO-Stacheldraht gesicherten Stahlmastenzaun. Sie hatten keine Beschäftigungs- oder Lernmöglichkeiten und wurden nur unzureichend medizinisch versorgt. Weil sich das Lager auf einem Berg in fünf Kilometer Entfernung zur nächsten Ortschaft befand, der Nahverkehr spärlich und außerdem für die Geflüchteten kaum erschwinglich war, konnten sich die Bewohner nur schwer selbst helfen oder Unterstützung finden, so dass sie sich ausgeliefert und ohnmächtig fühlten. 1997 und 1998 entstanden dort größere Protestbewegungen, die den Einbau von Küchen zur Selbstverpflegung erkämpften.9
Zu der Zeit, als Saidi in Tambach ankam, war die Selbstorganisation zum Erliegen gekommen. Zusammen mit einer neuen Generation politisch aktiver Asylsuchender gelang es ihr, den Kontakt zu früheren Unterstützer:innen wiederherzustellen. Gemeinsam forderten sie im März 2000 in einer Petition an den Thüringer Landtag, das Lager bei Tambach-Dietharz endgültig zu schließen.10 Die Petition wurde von einer Reihe von Demonstrationen, Besuchen im Landtag und Einladungen an Presse und Politiker:innen an den abgelegenen Ort flankiert.11 Habiba Saidi schrieb im Kontext dieses Protestes im Februar 2000 die zwei hier vorgestellten Briefe. Die niedersächsiche Aktivistin Regina Andreßen organisierte deren deutsche Übersetzung und Verbreitung. Unter den Empfänger:innen war der Thüringer Flüchtlingsrat, der die Briefe ebenso wie Andreßen archivierte. Überliefert ist an beiden Fundstellen nur die übersetzte Version mit handschriftlichen Anmerkungen von Andreßen. Das veranschaulicht, wie stark Meinungsäußerungen von Geflüchteten von der Vermittlungsarbeit deutscher Unterstützer:innen abhängig waren, die durch Übersetzung, Kopie und Verteilung der Briefe erst ermöglichten, dass die Texte ein breiteres deutsches Publikum erreichten, in diesem Prozess aber auch in den Inhalt eingreifen und eigene Akzente setzen konnten.12
Den ersten, zweiseitigen Brief vom 7. Februar 2000 formulierte Saidi im „wir“ und machte sich so zur Fürsprecherin der „Flüchtlinge des LGU Neues Haus“.13 Immer wieder bezieht sie sich dabei auf die Menschlichkeit der Asylsuchenden als allgemeingültigen Wert, der in Form der universellen Erklärung der Menschenrechte auch eine Rechtsgrundlage hat und damit einklagbar ist. Ihre Fragen „Sind wir noch ein Teil der Menschheit? Treffen die Gesetze und Konventionen noch auf uns zu?“14 bringen die zwei Pfeiler, auf denen ihre Argumentation beruht, auf den Punkt. Ihre Briefe heben sich von den anderen Protestschriften Asylsuchender aus dem Camp ab, weil sie nicht bei der Beschreibung der schwierigen Lebensumstände im Lager stehen bleiben, sondern die isolierte Lage, Einschränkung der Bewegungsfreiheit und die mangelhafte Gesundheitsversorgung in Menschenrechtsdiskurse einordnen. Obwohl Saidi nicht im engeren Sinne mit Paragraphen argumentiert und ihr Brief eine aktivistische, keine juristische Anklage darstellt, schließt sie mit ihrer Sprache an die Formulierungen der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an.15 Durch ihre Bildung und Berufserfahrung hat sie, trotz der weitgehenden Abschirmung von Informationen innerhalb des Lagers, einen Referenzrahmen, um ihre Behandlung anzuklagen, und eine Vorstellung davon, wie Recht hergestellt werden sollte. Sie ruft am Ende des ersten Briefes „staatliche Organe“ auf, die Wahrheit ihrer Zeuginnenaussage ähnlich wie in einem Gerichtsprozess zu überprüfen, um sie dann „von ihrem Leiden [zu] erleichter[n]“.16 Wie die internationalen Menschenrechtskonventionen adressiert sie ausschließlich den Staat als Akteur und erwartet die Durchsetzung ihrer Rechte von derselben Instanz, die das Lager zu verantworten hat.
Im zweiten, nur einen Tag später verfassten Brief gibt Saidi die Rolle der allgemeinen Fürsprecherin auf und beschreibt stattdessen sehr persönlich und aus der Ich-Perspektive ihre eigenen Erfahrungen im Asylverfahren in Mühlhausen und Tambach. Den starken Bezug auf den Menschenrechtsdiskurs behält sie bei. Sie klagt die Intransparenz des Verfahrens an und schildert eindrücklich ihre Vereinsamung und Erniedrigung als berufstätige, belesene, früher viel gereiste, ältere Frau durch ihr Leben im Lager. Anders als im ersten Brief beschreibt sie die Geflüchteten nicht mehr als im Leiden vereinte, uniforme Gruppe, sondern benennt auch die Probleme des Zusammenlebens in den beengten Verhältnissen.
„Wer möchte sich vorstellen eines Tages an meiner Stelle zu sein: Um drei Uhr morgens das Zimmer verlassen, einen langen Flur entlang gehen, dessen große Türen geöffnet sind, den eisigen Luftzug verspüren, und sich mit betrunkenen, mit Drogen vollgepumpten Jugendlichen zu treffen. Was macht man mit der Würde des Menschen?“17
Habiba Saidi stellt ein neues „wir“ zwischen sich und den Leser:innen her, die sie sich an ihrer Stelle in der Konfrontation mit anderen Geflüchteten vorstellt. Sie gibt einen von subjektiven und körperlichen Empfindungen ausgehenden Einblick in Probleme der Massenunterbringung, der sich so weder in den behördlichen Akten noch in anderen Protestschreiben wiederfindet, die eher wie ihr erstes Schreiben eine Leidensgemeinschaft der Asylsuchenden postulieren. Die unterschiedlichen Sprecher:innenpositionen in ihren beiden Briefen verdeutlichen damit auch die Schwierigkeit der politischen Selbstorganisation von Asylsuchenden, die sich zwischen großen Differenzen innerhalb der Gruppe und der gemeinsamen Erfahrung von Isolation und struktureller Diskriminierung im Asylverfahren bewegt.
Durch den persönlichen Einblick, den der zweite Brief aus der Ich-Perspektive bietet, ist er eindeutiger als der erste der Quellengattung des Selbstzeugnisses zuzuordnen. Ich plädiere jedoch dafür, auch Saidis im Kollektiv argumentierenden Brief dort einzureihen und die Vorstellung eines von sich selbst allein Zeugnis gebenden Individuums zu hinterfragen, die in dem Ordnungsbegriff Selbstzeugnis eingeschrieben ist. Das Selbst als autonom anstatt als Teil einer Gruppe oder eines größeren Zusammenhangs zu begreifen und zu beschreiben, hat schließlich eine in der europäischen Aufklärung begründete und damit partikulare Tradition. Die allermeisten der schriftlichen Zeugnisse von Asylsuchenden aus Thüringen schildern die als Kollektiv erfahrene strukturelle Diskriminierung im „wir“ und erfüllen dennoch die Funktion, die Lebenswelten, Hoffnungen und Sorgen der Asylsuchenden zu erschließen, die in Verwaltungsquellen nicht sichtbar werden.
Etwa drei Jahre nachdem Saidi ihre Briefe verfasst hatte, wurde das Lager bei Tambach-Dietharz geschlossen. Der Protest der Geflüchteten trug zu dieser Entscheidung bei, ausschlaggebend war jedoch das Vertragsende zwischen dem Land Thüringen und der Betreiberfirma der Unterkunft. Ob und wo Saidi von der Schließung erfuhr, ist ungewiss. Ab Juli 2002 sind keine schriftlichen Spuren mehr von ihr in den aktivistischen Archiven zu finden.
Die hier diskutierten Passagen zeigen den großen Wert von Saidis Briefen als eine der wenigen Quellen von Asylsuchenden selbst. Über den spezifischen Kontext hinaus helfen sie zu verstehen, welche Lebenserfahrungen aus einer Verfolgung über die ursprüngliche Situation der Gewalt hinaus entstehen, wenn Verfolgte flüchten und sich in den Asylstrukturen anderer Staaten wiederfinden.
Referenzen
- UNHCR, Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, Artikel 1, A2.
- Patrice Poutrus, Umkämpftes Asyl, Berlin 2019.
- Vgl. ebd.; Ulrich Herbert, Die Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.; Ursula Münch, Asylpolitik in Deutschland. Akteure, Interessen, Strategien, in: Stefan Luft und Peter Schimany (Hrsg.), 20 Jahre Asylkompromiss. Bilanz und Perspektiven, Bielefeld 2014, S. 69–86.
- Christian Reck, Die Asyldebatte in der Bundesrepublik Deutschland von 1987 bis 1993, Dissertation, Tübingen 2022, S. 26.
- Habiba Saidi, 2. Brief, Privatarchiv Regina Andreßen, 08.02.2000.
- Ebd.; Miriam R. Lowi, Algeria 1992–2002. Anatomy of a Civil War, in: Paul Collier und Nicholas Sambanis (Hrsg.), Understanding Civil War (Volume 1: Africa), Washington 2005, S. 221–246.
- Saidi, 2. Brief.
- Simon Baumann, /José Mbongo-Mingi/ Bachiri Salifou, Wir haben eine Stimme, in:
JungdemokratInnen/Junge Linke (Hrsg.), Kein Mensch ist illegal. Handbuch gegen Abschottung, Selektion & Überwachung, Berlin 1998, S.104–113, hier S. 110. - Für einen Einblick in die (Protest-)geschichte in dem Lager „Neues Haus“ bei Tambach-Dietharz siehe www.camp-tambach.de.
- Das Komitee der AsylbewerberInnen in Georgenthal unterstützt vom Verein Menschlichkeit e.V., Wir fordern die Schließung der Asylunterkunft Tambach-Dietharz (Georgenthal) (Petition), Archiv Flüchtlingsrat Thüringen, 29.02.2000.
- Siehe u.a. Oliver Bauer, Isolation macht Ausländer fertig. Schließung vom Neuen Haus gefordert, in: Thüringer Landeszeitung, 3. März 2000, (o.S.).; Vor-Ort-Termin am Neuen Haus. Lobby für bessere Unterbringung der Asylbewerber sehr dünn, in: Thüringer Allgemeine, 29. März 2000, (o.S.); Keine Schließung nötig. PDS-Visite in umstrittenen Asylbewerberheim, in: Südthüringer Zeitung, 30. März 2000, S. 3.
- Vgl. zu Machthierarchien zwischen Asylsuchenden und ihren Unterstützer:innen: Osaren Igbinoba, Die Fessel, die uns gefangen hält, in: Neues Deutschland, 28. August 2009, (o.S.).
- Habiba Saidi, 1. Brief, Privatarchiv Regina Andreßen, 07.02.2000.
- Ebd.
- Vgl. Vereinte Nationen, Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Verfügbar unter: ‹http://www.ohchr.org/en/udhr/pages/Language.aspx?LangID=ger›, abgerufen am 23.07.2023.
- Saidi, 1. Brief.
- Saidi, 2. Brief.