Eigentlich war sich die 28-jährige Aniela C. der deutschen Briefzensur sehr gut bewusst, als sie am 9. Januar 1942 einen Brief an ihren guten Freund Jan B. schrieb. Dennoch ließ sie ihrer Wut freien Lauf.1 Sie lebte in ihrem angestammten Dorf Grodziec, das seit der deutschen Besatzung Polens in den an das Deutsche Reich angegliederten Gebieten lag. Jan hingegen war seit Frühjahr 1941 zur Zwangsarbeit in Ostpreußen eingesetzt. Das angehende Paar vermisste sich sehr und versuchte, die Trennungszeit mit regem Briefkontakt zu überbrücken. Aniela schrieb ihre Briefe oft „auf gut Glück“, in der Hoffnung, dass „irgendeiner schon ankommen würde“. Offenbar nutzte die junge Polin diese Kommunikation als Ventil für ihre nicht ausgelebten Emotionen, denn ihre Briefe waren voller Wut auf die Deutschen. Sie ärgerte sich über neue Anordnungen, etwa die Zwangsabgabe der Winterkleidung für die deutschen Frontsoldaten.2 Außerdem befürchtete sie, abrupt aus ihrem Haus vertrieben zu werden, ähnlich wie es im Nachbarhaus geschah, wo die Deutschen eine ganze Familie grundlos in das Generalgouvernement abgeschoben hatten, wovon sie ihrem Freund ebenfalls im Brief berichtete. Aniela hasste die Besatzer auf Grund des alltäglichen Terrors.
In ihrer (vermeintlich) privaten Korrespondenz wollte sie sich nicht mehr beherrschen. Sie schimpfte auf die Deutschen und fürchtete sich nicht vor den Folgen ihrer deutschfeindlichen Gesinnung. So schrieb sie u.a.: „Der Herrgott hat ihnen in ihren dummen Köpfen die Vernunft verwirrt. Ich habe bisschen zu viel geschrieben, vielleicht wird der Brief zurückgehalten werden. Ich rechne damit und schreibe sofort den zweiten Brief und wenn es nötig ist, – noch den dritten. Ich werde ihnen [den Deutschen] auf Nerven spielen. Mögen sie sich, wie die Würmer auf dem glühenden Blech drehen.“ Nur 10 Tage später lag der durch die Zensur erfasste Brief in deutscher Übersetzung bei der Gestapo Zichenau, woraufhin die gelernte Schneiderin festgenommen und im Gerichtsgefängnis eingesperrt wurde. Da Aniela in der Vernehmung keinen Hehl aus ihrem Hass gegen die Deutschen machte, wurde sie in das Konzentrationslager Ravensbrück überstellt. In den Augen der Gestapofunktionäre: „stellte sie [eine] besondere Gefahr für die Festigung der Verhältnisse in den Ostgebieten dar.“ Dort im Lager angekommen musste sie nicht nur schwere Zwangsarbeit bei Kälte und Hunger leisten, sondern auch medizinische Pseudoexperimente über sich ergehen lassen.
Welche historischen Erkenntnisse können aus der Analyse dieses Briefes und des Schicksals von Aniela gewonnen werden?
Da der Brief mit vielen Emotionen beladen ist, lohnt es sich hier mithilfe eines emotionsgeschichtlichen Zugangs nach der Selbstwahrnehmung in der Besatzungswirklichkeit zu fragen. Schnell erkennt man, dass ihr Brief eine Strategie im Umgang mit der Besatzung darstellt.
Das Verhalten der jungen Polin ist für das deutsch besetzte Polen symptomatisch. Die alltäglichen Schikanen, Vertreibungen und Verhaftungen machten die einheimische Bevölkerung fassungslos. Letztendlich wussten sie einfach nicht mehr, wohin mit den angestauten und überwältigenden Emotionen. Sie schickten sich also Briefe. Manche Absender konnten ihre Wut und ihren Hass besser codieren, andere wiederum wollten sich in ihrer Verzweiflung diese Mühe nicht machen.
Unzählige Briefe erfasste in den Jahren 1941–1945 die Auslandsbriefprüfstelle (ABP), eine bei der Wehrmacht angesiedelte Behörde zur Kontrolle ausländischer Post, die mehrere regionale Vertretungen an den Außengrenzen des Reiches hatte. Sie beschäftigte dutzende Sprachkundler, die die im Deutschen Reich eingehenden Briefe stichprobenartig lasen und verdächtigte Passagen ins Deutsche übersetzten. Danach leitete die Behörde die Briefe an die Gestapo weiter, die entsprechende Ermittlungen im Umfeld der Absender und der Empfänger anstellte, um deutschfeindliche Gesinnungen und potenzielle Widerstandskämpfer aufzuspüren. Neben der ABP zensierte auch die Deutsche Reichspost im Auftrag der lokalen Polizeidienststellen und der Gestapo sporadisch ausländische Korrespondenzen.3
Die zurückgehaltenen Briefe stellen eine besondere Quellenart dar, die in bisheriger historischer Forschung kaum wahrgenommen wurde.4 Es sind Ego-Dokumente, die eine zeitgenössische Momentaufnahme mitten im Kriegsgeschehen vor allem der „kleinen Leute“ dokumentieren und damit viele bisher unbekannte Verfolgungsschicksale ans Tageslicht bringen. Die abgefangenen Briefe kann man als Zeugnisse einer doppelten Verfolgung auffassen. Die primäre Verfolgung stellt die Politik der deutschen Besatzungsmacht dar. Die Menschen sehen sich als passive Opfer der willkürlichen Herrschaft. Sie bangen um ihren Besitz, leben in Armut und erfahren Erniedrigung und Unrecht aufgrund ihrer rassisch-ethnischen Abstammung. Die sekundäre Verfolgung resultiert aus den Konsequenzen der Briefzensur. Denn die Absender und Empfänger werden von der Gestapo für die Dauer der Ermittlung festgenommen. Je nach Belieben der Gestapofunktionäre erwartet sie als Strafe die Verwarnung, die temporäre Haft in einem Arbeitserziehungslager oder die Einweisung in ein Konzentrationslager. Nicht selten aber schaltete die Polizei die ordentliche Gerichtsbarkeit ein, die die Angeklagten nach dem Heimtückegesetz (Das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934) wegen ihrer deutschfeindlichen Äußerungen aburteilte. Zwar wurde im Nationalsozialismus das Postgeheimnis auch bei den Staatsbürgern des Deutschen Reichs aufgehoben, doch dem betroffenen Briefpartner blieb in der Regel die Aburteilung nach rassenideologischen Gesichtspunkten erspart. Denn sowohl als sog. polnische Zivilarbeiter im „Arbeitseinsatz“ in Deutschland als auch als „Nationalpolen“ in den besetzten Gebieten galten die ethnischen Polen in den Augen der Nationalsozialisten als minderwertige „Untermenschen“.
Wo lassen sich die abgefangenen Briefe aus dem besetzten Polen finden?
Zunächst bieten sich die Gestapoakten an. Jedoch sind sie größtenteils zum Ende des Krieges planmäßig vernichtet worden, sodass heute für das damals deutsch besetzte polnische Gebiet nur die Personalakten der Staatspolizeistelle Zichenau/Schröttersburg (Ciechanów/Płock) und der Gestapo Lodz/Litzmannstadt (Łódź) erhalten sind. Doch schon diese regionalen Bestände zeigen die ungeheure Reichweite der Verfolgungspraxis bezüglich der als deutschfeindlich klassifizierten Briefe. Sehr gut überliefert sind hingegen Personalakten der NS-Justiz (Generalstaatsanwaltschaft; Gerichte, Strafanstalten). Dort finden sich zahlreiche Urteile gegen polnische Bürger aufgrund der Briefzensur. Die betreffenden Akten enthalten neben den Briefen als Beweisstücke auch Informationen zu geführten Ermittlungen, die weitgehend die notwendige Kontextualisierung des jeweiligen Briefaustauschs ermöglichen.
Die überlieferten Briefe sind im Original und meist in amtlicher Übersetzung erhalten. Dokumentiert ist in der Regel der Briefumschlag, der oft selbst als Kommunikationsmittel genutzt wurde. Manche Absender vermerkten dort in gebrochenem Deutsch, dass der Brief sehr wichtig sei und baten um rasche Zustellung. Einige Briefumschläge enthalten familiäre Fotografien oder religiöse Gegenstände, die den subjektiven Charakter dieser Quellen verdeutlichen.
Der Vorteil dieser Quellengattung besteht in der dezentralen Herkunft und der Verschiedenartigkeit der Briefautoren, die oft auch in sich labile ethnisch-nationale Identitäten tragen. Dies ermöglicht es, Emotionen und Erfahrungen der Besatzung in unterschiedlichen territorialen, sozialen und ethnischen Kontexten zu untersuchen. Vielen Briefen liegt ein Trennungsschmerz zugrunde, was dazu führt, dass sie eine besondere emotionale Dichte besitzen. Die unter Besatzung lebenden Absender schrieben ihren Freunden und Familienangehörigen hauptsächlich das, was ihnen besonders am Herzen lag und offenbarten damit ihre Emotionen und Erlebnisse. Auch diejenigen, die dem Schreiben nicht mächtig waren, nutzten das Medium Brief und brachten mithilfe von Nachbarn ihre Gefühle zu Papier.
Wenn man die Epistemologie zur Zeit des Krieges zum Untersuchungsobjekt macht, ist die Klärung der Briefzensur unabdingbar. Fest steht, dass das Wissen der Briefabsender über die Kontrolle des Briefverkehrs vage, situativ und individuell war. Auch wenn bestimmte Autoren sich der Überwachung des Briefverkehrs bewusst waren, verzichteten sie nicht auf die Botschaften, die sie ihrem Briefpartner vermitteln wollten, wie etwa die oben zitierte Aniela. Manche Informationen treten aber nur durch das Lesen zwischen den Zeilen hervor.
Die historische Nutzung der durch die deutschen Zensoren abgefangenen Briefe erfordert tiefe ethische Reflexionen. Zunächst bedarf es einer erheblichen Überwindung, fremde Korrespondenz für wissenschaftliche Zwecke zu lesen. Ist es berechtigt, diese tiefst persönlichen Gegenstände als erkenntnisleitende Quellen zu nutzen und das schon damals durch die deutschen Briefzensoren missachtete Postgeheimnis außer Acht zu lassen? Keiner der Briefautoren kann eine Einverständniserklärung im heutigen Sinne erteilen. Ebenso verhält es sich mit den Nachkommen, für welche die Briefe aus dem Krieg normalerweise ein perfektes familiäres Erinnerungsstück wären. Doch wissen sie oft nicht von der Existenz dieser Briefe. Aus diesen Gründen ist ein respektvoller Umgang mit diesen Ego-Dokumenten geboten. Sie sind primär als intime Hinterlassenschaft der lebenden Personen in extrem schwierigen Verhältnissen der Besatzungsherrschaft zu verstehen. Oft verfassten die verfolgten Menschen ihre Briefe als Hilferufe mit höchst emotionalem oder spirituellem Inhalt. Bei manchen Briefen handelte es sich sogar um Abschiedsgrüße. Der forschungsethische Respekt richtet sich daher sowohl auf die Briefe selbst als auch auf die Biografie der Absender. Aus hermeneutischer Sicht bedeutet es, die Betroffenen als Subjekte samt ihren Erfahrungen, Emotionen und Vorurteilen zu betrachten. Deshalb empfiehlt es sich, in die Analyse nur solche Briefe einzubeziehen, bei denen sich die biographischen Hintergründe rekonstruieren und verstehen lassen, um die Briefautoren in ihrer Umgebung richtig zu verorten. In der Publikation der Briefe sollte die Teilanonymität der Biografien gewährleistet werden, auch wenn es sich um lang verstorbene Personen handelt. Schließlich ist es unbekannt, ob sie mit der Einsicht ihrer persönlichen Dokumente einverstanden gewesen wären.
Der mitten in der Besatzungsherrschaft abgefangene Brief ist je nach Inhalt und Folgen der Briefzensur ein Ego-Dokument der Verfolgung. Im Fall der Aniela C. ist dies definitiv so. Ihr Brief und ihre Biografie wären ein wichtiger Quellenhinweis zu aktuellen Debatten um das Besatzungsmuseum bzw. um den Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen.5 In diesem Sinne stellt die Beschäftigung mit abgefangenen Briefen die individuelle Perspektive auf das Leben unter der Besatzung stärker in den Vordergrund und gibt letztendlich den alltäglich verfolgten „kleinen Leuten“ ihre Stimme zurück.
Referenzen
- Zitate und weitere Informationen sind der Personalakte von Aniela C. im Bestand „Gestapo Zichenau“ entnommen. Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej w Warszawie [Archiv des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau], Sign. IPN GK 629⁄633. Zu ihrer KZ-Erfahrung siehe die Entschädigungsakte aus 1972 im gleichen Archiv: Sign. IPN GK 927⁄5850. Der Text entstand im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Emotionen unter extremen Bedingungen. Gefühlswelten in Polen unter deutscher Besatzung, 1939–1945“ (Projektnummer: 448792852, Projektlaufzeit 2020–2026: 50%).
- Wenn im Folgenden zur besseren Übersichtlichkeit nur die maskuline Formulierung verwendet wird, sind selbstverständlich Frauen, Männer und alle weiteren Identitäten gleichermaßen gemeint.
- Vgl. Christine Hartig, Briefe als Zugang zu einer Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus, Hamburg 2018, online Publikation, https://ns-alltagsgeschichten.blogs.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/themen/Briefe-als-Quelle/index.html [letzter Zugriff: 07.01.2023].
- In der historischen Forschung konzentrierte man sich häufiger auf die Post der KZ-Häftlinge, deren Besonderheit, außer der selbstverständlichen Briefzensur, im Zwang zum Schreiben in deutscher Sprache bestand. Siehe: Benjamin Grilj, Briefe aus den Lagern der NS-Herrschaft (1933–1945), in: Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink, Jochen Strobel (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2 Bd., Berlin 2020, S. 1441–1449; vgl. Heinz Wewer, Spuren des Terrors: Postalische Zeugnisse zum System der deutschen Konzentrationslager, Berlin 2020.
- Im November 2017 kam es im Hintergrund der polnischen Debatte um die deutschen Kriegsreparationen zu einem Aufruf an den Deutschen Bundestag und die deutsche Öffentlichkeit zur Errichtung eines Polen-Denkmals in der Mitte Berlins zum Gedenken an die polnischen Opfer der deutschen Besatzung.