Revolten, Aufstände und insbesondere Revolutionen gehen in der Geschichte beständig einher mit Ausschreitungen gegen Minderheiten. In diese traurige Gesetzmäßigkeit lassen sich auch die judenfeindlichen Ausschreitungen des Revolutionsjahres 1848 im deutschsprachigen Südwesten einreihen. Heute nachlesbar sind solche Exzesse in den Berichten prägender Zeitgenossen, wie den Erinnerungen des Publizisten und Politikers Ludwig Bamberger.
Im französischen Elsass fiel es auf die lokale Bevölkerung zurück, dass jüdische Politiker erstmals Teil der verfassungsgebenden Versammlungen waren und sich gleichsam auch erfolgreich als Minister zur Wahl stellen konnten. Dass der dazu angesetzte Wahltermin im Frühjahr auch noch auf das Osterwochenende fiel, heizte die antijüdische Stimmung in der Region weiter an und brachte diese vielerorts zum Eskalieren. Für die kleine Grenzgemeinde Hégenheim bei Basel ist ein Briefverkehr überliefert, den der dortige Rabbiner Moïse Nordmann im Mai 1848 angestoßen hatte, als er sich mit der Bitte um Unterstützung an das Pariser Zentralkonsistorium (Consistoire Central)1 wandte und in seinem Schreiben die ausgestandenen Schrecken schilderte.
Der in Kopie überlieferte Brief Nordmanns umfasst vier handschriftliche Seiten in französischer Sprache2 und lässt sich grob gliedern in eine kurze Einleitung, in welcher der Icherzähler die Ausgangslage des Konflikts beschreibt, den Hauptteil mit seinen Schilderungen der Ausschreitungen, seiner Reaktion und seiner Handlungen darauf sowie abschließende Worte, in denen er eindringlich um eine auch politische Unterstützung durch das Consistoire Central fleht.
Den Grund für die Gewalttaten sieht Nordmann zunächst in der allgemein aufgeheizten politischen Stimmung infolge der neuerlichen Wahlen:
„Beschränkten sich die Übeltäter in den anderen Orten darauf, die Israeliten auszurauben und zu plündern, so richtete sich ihre Wut in Hegenheim besonders gegen die Personen, die mit unvorstellbarer Barbarei misshandelt wurden. Der Ausbruch wurde durch eine blutige Schlägerei ausgelöst, provoziert von einigen Bauern, die von den Wahlen zurückkehrten.“3
Gegenseitige Provokation in der Öffentlichkeit hätten in seinem Heimatort zu einem Handgemenge geführt, wodurch ein nicht-jüdischer Aggressor einen Finger verloren habe:
„Einer der Angreifer wiederum verlor durch einen Säbelhieb einen Finger. Er wurde in die Mitte des Dorfes geführt, Bauerngruppen versammelten sich um ihn, Anstifter zeigten der Menge seine Wunde und provozierten sie zur Rache.“4
Schnell sei die Lage eskaliert und auch die vor Ort stationierten jüdischen Nationalgardisten hätten sich den Aufrührern nicht erwehren können, die schon zum Pogrom mobilisierten:
„Im Handumdrehen ist die gesamte katholische Bevölkerung auf den Beinen, rennt durchs Dorf und verbreitet ein Gejohle und Todesdrohungen gegenüber den Juden. Ein Trupp von 25 israelitischen Nationalgardisten, die auf dem Marktplatz postiert waren, wurde sofort von hundert Wahnsinnigen angegriffen, entwaffnet und mit Gewehrkolben und Bajonetten geschlagen.“5
Die Flucht in die nahegelegene Schweiz sei den Frauen und Kindern durch die aufgestachelte Menge versperrt worden, so dass sich die Gemeinde kurzerhand umzingelt und eingesperrt sah:
„Frauen und Kinder, die sich auf schweizerischem Boden zu retten versuchten, der nur wenige hundert Schritte entfernt war, fanden überall die Durchgänge verschlossen von Hunderten von mit knorrigen Stöcken bewaffneten Bauern, die in Massen aus allen umliegenden Dörfern hinzuströmten“6
Weiter im Brief folgt nun eine detaillierte Beschreibung einiger äußerst brutaler Verletzungen und Beschädigungen. Gegen Nachmittag erreichte Nordmann jedenfalls die Information von einer mitfühlenden christlichen Mitbürgerin, dass weitere schlimmere Übergriffe noch unmittelbar bevorstünden, weshalb er sich kurzerhand persönlich und auf abenteuerliche Weise über die Grenze absetzte, um Hilfe und Unterstützung zu ersuchen:
„Gegen 2:30 Uhr kommt eine Christin, um mir zu sagen, dass sie gehört hat, dass ein Komplott ausgeheckt wird, um gegen Abend mit den Israeliten abzurechnen. Nach dieser schrecklichen Nachricht hielt ich es für notwendig, hinauszugehen und Hilfe zu suchen. Auf Umwegen, mit einem Kind auf dem Arm, gelang mir die Flucht. Auf Schweizer Boden angekommen, ließ ich einen Wagen nach Mulhouse einspannen.“7
Während er diese Unterstützung beim Mulhouser Bürgermeister Emile Dolfus fand, klagt er über die ausbleibende Solidarität und Hilfe in seiner Heimatgemeinde:
„Die Kommune tat nichts, um die Stimmung zu beruhigen, mit Ausnahme der beiden reichsten Mitglieder, die gegen 5:20 Uhr zum Schauplatz der Unordnung gingen, um die Menge aufzulösen, und das nicht aus Menschlichkeit, sondern aus Angst davor, einen Teil der Verantwortung tragen, wie sie selbst erklärten.“8
Die Lage sei auch nach Beseitigung der unmittelbaren Gefahr weiterhin sehr bedrohlich und die Sicherheit der jüdischen Gemeinde werde nur durch bewaffneten Schutz gesichert:
„Seitdem haben wir eine Garnison von 50 Mann. Wäre uns diese Hilfe acht Tage früher zuteilgeworden, hätte das Unglück vieler Familien abgewendet werden können.“9
Besonders klagt Nordmann im Folgenden auch über die Vergeblichkeit all seiner Bemühungen, die möglichen Ausschreitungen vorab den Behörden begreiflich zu machen. Hier sei er allerorts nur auf taube Ohren gestoßen:
„Vergeblich hatte ich mich an die Kommissare der Abteilung gewandt, vergeblich hatte ich ihnen die drohende Gefahr aufgezeigt, in der sich meine Gemeinde befand, vergeblich hatte ich wenigstens eine Wache von 25 Mann gefordert, vergeblich hatte ich Mitteilung um Mitteilung an den Kommandanten von Huningue geschickt (einen Ort entfernt gelegen) in dem Moment, als die Katastrophe hereinbrach, überall stieß ich nur auf Absagen.“10
Interessant ist hierbei auch, dass er betont, wie ungerecht die grundsätzlichen Anschuldigungen und Feindseligkeiten gewesen seien, wo doch allgemein bekannt sei, wie fortschrittlich und zivilisiert er seine gesamte Gemeinde eingerichtet habe:
„Meine Gemeinde hätte jedoch besonderen Schutz verdient: Sie ist die zivilisatorisch am weitesten fortgeschrittene von allen im Elsass.“11 Die nun bestehende Lage beschreibt er abschließend als sehr unbefriedigend, da wohl kaum mit einer ernsthaften Verfolgung der Haupttäter zu rechnen sei und dadurch weiterhin große Gefahr durch Vergeltungsaktionen bestünde:
„In diesem Moment wird der Fall vom Gericht zu Colmar verhandelt, aber die Untersuchung wird mit Milde durchgeführt. Die Täter dienen sich gegenseitig als Zeugen der Verteidigung, sodass die Bestrafung wohl nicht im Verhältnis zur Tat stehen wird.“12
Moïse Nordmann setzt also seine gesamte Hoffnung in die Tätigkeit und Einflussnahme des Pariser Zentralkonsistoriums, sich für die Sache seiner Hégenheimer Gemeinde einzusetzen und öffentlichen Druck auszuüben:
„In der Hoffnung, dass das Zentralkonsistorium die Güte habe, sich zu erwärmen für das traurige Schicksal meiner unglücklichen Gemeinde, die all ihr Mitgefühl verdient und die sich ohne ihren hohen Schutz nicht mehr behaupten kann.“13
Der Brief Moïse Nordmanns hatte tatsächlich nachweisliche Folgen, wie man in den weiteren überlieferten Schriftstücken nachlesen kann. Das Innenministerium nahm seine Anschuldigungen durchaus ernst, was sicherlich durch die Unterstützung des Consistoire Central und anderer Begleitschreiben nichtjüdischer Fürsprecher begünstigt wurde. Die Angelegenheit zog sich zwar noch ein weiteres Jahr hin, jedoch ist aus den Rechtfertigungen der Präfektur in Colmar zu entnehmen, dass man sich schwer damit tat, die Vorwürfe zu entkräften und lediglich zur stereotypen Entgegnung griff, dass die Jüdinnen und Juden selbst schuld an der ihnen angetanen Gewalt seien:
„provoziert durch eine Haltung von leichtsinniger Prahlerei.“14
Letzten Endes erreichte Nordmann es, dass sich die örtlichen Behörden nicht nur für ihre unterlassene Hilfeleistung rechtfertigten, sondern schließlich sogar eine Entschädigung zahlen mussten. Somit gibt der Fall einen einen direkten und lebendigen Einblick in Geschehnisse an der Peripherie der jüdischen Welt Mitteleuropas im 19. Jahrhundert und belegt gleichzeitig eine couragierte Tat und letztlich die erfolgreiche Einflussnahme eines jüdischen Würdenträgers zum Schutz seiner Gemeinde.
Referenzen
- Die in Napoleonischer Zeit geschaffene Zentralinstitution des französischen Judentums.
- Im Folgenden wiedergegeben in der Übersetzung durch den Autor. Die Originalpassagen finden sich in den jeweiligen Fußnoten. Der Brief wird heute im Archives d’Alsace unter der Signatur V 615 verwahrt. Der gesamte Dokumentenbestand findet sich als Digitalisat im Downloadbereich.
- „Si dans les autres localités les malfaiteurs se sont bornés à piller et à saccager les Israélites, à Hégenheim leur fureur s’est déchainée particulierement contre les personnes, qui ont été maltraitées avec une barbarie inconcevable. C’est par une rixe sanglante provoquée par quelques paysans qui revenaient des élections que l’explosion a été motivée.“
- „Un des agresseurs à son tour perdit un doigt par un coup de sabre. Il fut conduit au milieu du village, des groupes de paysans s’attroupèrent autour de lui, des instigateurs montrèrent sa blessure à la foule en la provoquant à la vengeance.“
- „En un clin d’œil toute la population catholique est sur pied parcourant le village et poussant des hurlements et des cris de mort contre les juifs. Un piquet de 25 gardes nationaux israélites qui était posté sur la place du marché fut aussitôt assailli par une centaine de forcenés, désarmé et frappé à coups de crosse et de baionettes.“
- „Des femmes et des enfans[!] essayaient de se sauver sur le sol suisse, qui n’est qu’à quelques centaines de pas, trouvèrent partout les passages fermés par des centaines de paysans armés de bâtons noueux, qui affluaient en masses de tous les villages environnants,“
- „Vers 2h ½, une femme chrétienne vient m’avertir qu’elle a entendu qu’un complot est tramé de faire mainbasse sur les Israélites vers le soir. À cette terrible nouvelle, je jugeais nécessaire de sortir pour aller chercher de secours. Par un chemin détourné, un enfant sur le bras, je parvins à m’échapper. Arrivé sur le sol suisse, je fis atteler une voiture pour Mulhouse.“
- „L’autorité locale n’a rien fait pour calmer les esprits, à l’exeption des deux membres les plus riches qui, vers 5h 20m du soir, se sont rendus sur le théâtre du desordre pour dispenser la foule, et cela non par un sentiment d’humanité, mais de crainte de supporter une partie de la responsabilité, comme ils l’ont déclaré eux-mêmes.“
- „Depuis ce moment nous avons une garnison de 50 hommes. Si ce secours nous avait été donné huit jours plustôt[!], le malheur d’un grand nombre de familles aurait pu être détourné.“
- „Vainement je m’étais adressé aux commissaires du département, vainement je leur avais exposé le danger imminent où se trouvait ma communauté, vainement j’avais réclamé au moins une garde de 25 hommes, vainement j’avais adressé courrier sur courrier au commandant de Huningue (à une lieu de distance) au moment où la catastrophe était sur le point d’éclater, partout je ne rencontrais que des refus.“
- „Ma communauté aurait cependant mérité une protectione spéciale : elle est la plus avancée en civilisation de toutes celles de l’Alsace.“
- „Dans ce moment l’affaire est evoquée par la cour de Colmar, mais l’instruction se fait avec tiédeur. Les malfaiteurs se servent mutuellements de témoins à décharge, de sorte que la répression ne sera pas probablement en proportion du crime. »
- „Dans l’espérance que le consistoire central daignera s’intéresser au triste sort de ma malheureuse communauté qui mérite toutes ses sympathies, et qui, sans sa haute protection, ne pourra plus se maintenir.“
- „provoqué par une attitude d’imprudente jactance.“