Während einige Sozialarbeitsschulen in Folge der Machtübertragung an die Nationalsozialist:innen im Jahr 1933 entweder zwangsweise geschlossen wurden oder sich selbst auflösten, wurde die aus der Frauenbewegung hervorgegangene, inzwischen staatlich anerkannte Wohlfahrtsschule von ihren Angehörigen im Sinne der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik umgestaltet. Alle daraufhin als „nicht arisch“ und „politisch unzuverlässig“ markierten Schüler:innen und Dozent:innen – darunter auch die Schulgründerin Alice Salomon – mussten die Schule umgehend verlassen. Auch die Mitarbeiter:innen und Schüler:innen des sozialpädagogischen Seminars des Jugendheims Charlottenburg e.V. unter Anna von Gierke, die nach dessen Selbstauflösung 1934 an die Schöneberger Schule übergingen, wurden vorab entsprechend (aus)sortiert. „Ein Abgrund hatte sich aufgetan zwischen jenen, die aus dem Rennen waren, und jenen, die weitermachen zu können hofften“1, wie Alice Salomon in ihrer im Exil verfassten Autobiographie festhielt.
Eine ganze Reihe der Entlassenen und Vertriebenen nahm zwischen den späten 1940er und den 1960er Jahren wieder Kontakt zu „ihrer“ Schule auf. Viele taten dies auch, weil sie für ihre Entschädigungs- und Wiedergutmachungsverfahren2 um Bescheinigungen über ihre Vertreibung von der Schule bitten mussten. Diese Briefe, die heute als Bestandteil der Verwaltungsakten der Sozialen Frauenschule und ihrer Nachfolgeeinrichtungen im Alice Salomon Archiv (ASA) der Alice Salomon Hochschule Berlin erhalten werden, ermöglichen vielerlei Einblicke in die biographischen Verläufe der Vertriebenen nach ihrer Flucht.3 Ein großer Teil dieser Briefe enthält knappe, formale Anfragen und war häufig über Dritte – in der Regel Anwält:innen – eingereicht worden. Für deren Autor:innen bzw. Auftraggeber:innen scheint der „Abgrund“, den Salomon benannte, weiterhin manifest zu sein.
Andere Briefe lassen sich hingegen als Versuch lesen, neue Verbindungen herzustellen. Zu diesen zählt das Schreiben der Sozialarbeiterin und Psychoanalytikerin Dr. Dora Bernhard (geb. Friedländer) an die Sekretärin des Seminars für Soziale Arbeit Ingrid Roeder4 aus dem italienischen Exil, das im Jubiläumsjahr an der Schule eintraf. Die promovierte Nationalökonomin Bernhard war bereits 1933 aus ihrem Arbeitsverhältnis mit dem Jugendheim Charlottenburg entlassen worden. In ihrem Brief bittet sie für das von ihr angestrengte Entschädigungsverfahren um eine Bestätigung darüber, dass diese Entlassung politisch motiviert gewesen sei. Dies sei, so Bernhard, „aus begreiflichen Gründen“5 in ihrem Entlassungszeugnis nicht dokumentiert worden. Aus dem ausführlichen Lebenslauf, den Bernhard ihrem Brief beigelegt hatte, erfahren wir, dass sie einige Jahre nach der Entlassung, in denen sie sich mit „wissenschaftlicher Hilfsarbeit“6 durchgeschlagen habe, wegen zunehmender Bedrohung und Verfolgung nach Italien ausgewandert sei. Dort habe sie sich erneut unter bedrohlichen Bedingungen eine neue, erfolgreiche Existenz als Psychotherapeutin aufgebaut.
Ihr Brief zeugt davon, dass Bernhard sich mit ihrer Anfrage an ihre ehemalige Kollegin einer schwierigen Balanceaufgabe stellt. Im Brief begrüßt sie den „direkt[en] Kontakt“ mit der nun schon ein Vierteljahrhundert zurückliegenden, „immer lebendig gebliebenen Vergangenheit“ und wünscht, von der Adressierten auch „persönlich“ zu hören.7 Mit ihrem Anliegen hofft Bernhard, „nicht allzugrosse Mühe“ zu machen; am Ende grüßt sie „dankbar und freundschaftlich“8. Dass ihre antisemitisch motivierte Entlassung von Roeder selbst und anderen Kolleg:innen mindestens gebilligt worden war9, benennt Bernhard nicht. Stattdessen nennt sie als Ursache die „nationalsozialistischen Rassengesetze“. Zum Zeitpunkt von Bernhards Entlassung, dem 14. März 1933, existierten diese jedoch noch nicht – gleichwohl den späteren Gesetzen entsprechende Praktiken bereits unmittelbar nach der Machtübertragung etabliert wurden.10
Diese vielleicht nebensächlich erscheinende Ungereimtheit ließe sich leicht dem großen zeitlichen Abstand oder dem Trauma der Vertreibung geschuldeten Verdrängungsprozessen zuschreiben. Gehen wir jedoch davon aus, dass Bernhard mehrfach Anlass hatte, sich intensiv mit ihrer eigenen Fluchtgeschichte zu befassen, ergeben sich noch weitere mögliche Lesarten. So ist Bernhard für den Erfolg ihres Anliegens auf die Kooperation ihrer Adressatin angewiesen und gibt ihr die Formulierung, die für ihren Entschädigungsantrag entscheidend sein kann, gewissermaßen vor. Zugleich bewirkt ihre auch sehr persönliche Züge aufweisende Ansprache, dass der neu etablierte Kontakt auch von eventuellen Schuldvorwürfen frei bleibt.
Neben dieses Spannungsfeld tritt ein weiteres, das sich vor allem im dem Brief beigefügten Lebenslauf abbildet. Im Rahmen ihres Entschädigungsverfahrens musste Dora Bernhard den Grund der Entlassung nicht nur durch Bescheinigungen belegen, sondern auch nachvollziehbar machen; sie musste sich also selbst als Jüdin im Sinne der Nürnberger Gesetze „lesbar“ machen. Dies war offenbar keineswegs trivial; vermutlich auch deshalb, weil die Familie Bernhards über Generationen hinweg christlich getauft und sozialisiert worden war.11 Allein der Großvater Bernhards väterlicherseits, der – ebenfalls getaufte – Historiker Prof. Dr. Ludwig Friedländer, galt nach den Gesetzen als sogenannter „Volljude“. „Der Rasse nach“ sei sie „Mischling“, ihr Großvater väterlicherseits sei „Volljude“, ihr Vater also „Halbjude.“12 „Ich bin zu einem Viertel jüdischer Abstammung,“13 so Bernhard.
Auch wenn wir nicht wissen, warum sie diese Formulierung wählte, ist anzunehmen, dass die Form des Entschädigungsantrags eine solche rassistische Identifizierung, in der Bernhard die Sprache der Täter:innen distanzlos übernahm, förmlich erzwungen haben muss. Hinzu kommt, dass zu diesem Zeitpunkt die äußerst restriktive Wiedergutmachungspolitik bereits hinlänglich bekannt gewesen war.14 So verwundert es nicht, dass sich dieser Duktus weiter fortsetzt. Da ihr Verlobter15 „Volljude“ sei, sei ihre „an sich schon bedrängte Lage immer unhaltbarer“ geworden.16 So entschloss sich das Paar im Dezember 1936 zu einer gemeinsamen Flucht nach Italien.
Wie die nationalsozialistische Vertreibung von Personen aus öffentlichen Institutionen und Ämtern konkret umgesetzt worden ist, wer die Täter:innen und Unterstützer:innen waren und wer sich widersetzte, ist bis heute nicht umfassend erforscht. Auch für die Erforschung der Vorläuferinstitutionen der heutigen Alice Salomon Hochschule bildet dieses Kapitel ihrer Institutionsgeschichte weiterhin ein Desiderat.
Die Briefe, die die Betroffenen an ihre ehemalige Schule schickten, bieten zwar diesbezüglich nur wenig Aufschluss, sind jedoch äußerst aufschlussreich für Fragestellungen, die sich den Lebensgeschichten der Überlebenden im Spiegel ihrer Vertreibungserfahrung zuwenden. Diese Selbstzeugnisse dokumentieren individuelle Erinnerungs‑, Deutungs- und Verarbeitungsweisen, die im Kontext der problematischen Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik stehen. Diesen Kontext, der die Briefe gewissermaßen überformt, gilt es, systematisch in der Analyse zu berücksichtigen.
Referenzen
- Alice Salomon, Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen, Weinheim/Basel 1983, S. 266–267.
- Die vermeintliche „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts wurde im Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) ab 1953 erstmals bundeseinheitlich geregelt. Ein darin erfasster Schadenstatbestand ist der sogenannte Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen, der u.a. durch eine entsprechende Schulbescheinigung belegt werden konnte (vgl. Walter Schwarz, Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick, in: Ludolf Herbst und Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 2019, S. 33–54).
- Zu diesen Dokumenten bilden die Akten der Berliner Entschädigungsbehörde im Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) einen wertvollen Ergänzungsbestand.
- Ingrid Roeder war seit 1917 Sozialsekretärin des Vereins Jugendheim Charlottenburg und kam im Zuge dessen erzwungener Vereinsauflösung durch die Nationalsozialist:innen und der Übernahme der ehemaligen Vereinseinrichtungen durch das Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin (PFH Berlin) 1934 an das Seminar für Soziale Arbeit, die ehemalige Soziale Frauenschule. Nachdem die dortige Sekretärin Ilse Vahlen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ebenfalls entlassen wurde, trat Roeder deren Nachfolge an und blieb bis 1961 auf dieser Stelle tätig (vgl. Alice Salomon Archiv, Bestand 1‑C1).
- Brief Dora Bernhard an Ingrid Roeder vom 29. August 1958. Alice Salomon Archiv, 1‑C1.117, Bl. 65.
- Ebd., Bl. 66.
- Ebd., Bl. 65.
- Ebd.
- Die Entlassung Bernhards und weiterer jüdischer bzw. als „nicht arisch“ markierter Mitarbeiter:innen ist vermutlich von den nach der Machtübertragung zur Kontrolle des Jugendheims und des Pestalozzi-Fröbel-Hauses eingesetzten Mitgliedern der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt – unter ihnen der Leiter des Berliner Landesjugend- und Wohlfahrtsamtes Eduard Spiewok – angeordnet worden (vgl. Heidi Koschwitz, Das Jugendheim Charlottenburg (1873−1934). Ein Beitrag zur Geschichte der sozialen Frauenberufe in Berlin, Berlin, unveröffentl. Diplomarbeit, S. 91).
- Die sogenannten „Nürnberger Gesetze“, in denen zwischen „Juden“, „Mischlingen 1. und 2. Grades“ und „Deutschblütigen“ unterschieden wurde, sind am 15. September 1935 erlassen worden. Auch das „Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums“, das „Beamte nicht arischer Abstammung“ von öffentlichen Ämtern ausschloss und auch für die Sozialarbeitsschulen galt, trat erst am 7. April 1933 – also ca. drei Wochen nach Bernhards Entlassung – in Kraft.
- Vgl. LABO, Akte Dora Bernhard 371.430 (unpaginiert).
- Brief Dora Bernhard an Ingrid Roeder vom 29. August 1958. Alice Salomon Archiv, 1‑C1.117, Bl. 66.
- Ebd.
- Christian Pross, Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Frankfurt am Main 1988. Aus der im LABO erhaltenen Verfahrensakte geht hervor, dass Bernhard nach vielen Jahren Begutachtungsdauer keinerlei Entschädigungsleistungen erhielt. Als Grund wurde angegeben, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung nicht in einem sozialversicherungspflichtigen, sondern in einem selbständigen Beschäftigungsverhältnis zum Jugendheim gestanden habe (vgl. LABO, Akte Dora Bernhard 371.430 (unpaginiert)).
- Es handelt sich dabei um den Kinderarzt und Psychotherapeuten Dr. Ernst Bernhard, der ebenfalls als Dozent am Sozialpädagogischen Seminar des Jugendheims Charlottenburg tätig gewesen war (vgl. Brief von Ingrid Roeder an Dora Bernhard, 7.10.1958, ASA 1‑C1.117, Bl. 63).
- Brief Dora Bernhard an Ingrid Roeder vom 29. August 1958. Alice Salomon Archiv, 1‑C1.117, Bl. 66–67.