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„So komme ich zu ihrer mir noch deutlich erinnerten Hilfsbereitschaft“

Vertreibungserfahrung in einem Brief aus dem Exil, Italien 1958

Text: Dayana Lau

Wäh­rend eini­ge Sozi­al­ar­beits­schu­len in Fol­ge der Macht­über­tra­gung an die Nationalsozialist:innen im Jahr 1933 ent­we­der zwangs­wei­se geschlos­sen wur­den oder sich selbst auf­lös­ten, wur­de die aus der Frau­en­be­we­gung her­vor­ge­gan­ge­ne, inzwi­schen staat­lich aner­kann­te Wohl­fahrts­schu­le von ihren Ange­hö­ri­gen im Sin­ne der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Bevöl­ke­rungs­po­li­tik umge­stal­tet. Alle dar­auf­hin als „nicht arisch“ und „poli­tisch unzu­ver­läs­sig“ mar­kier­ten Schüler:innen und Dozent:innen – dar­un­ter auch die Schul­grün­de­rin Ali­ce Salo­mon – muss­ten die Schu­le umge­hend ver­las­sen. Auch die Mitarbeiter:innen und Schüler:innen des sozi­al­päd­ago­gi­schen Semi­nars des Jugend­heims Char­lot­ten­burg e.V. unter Anna von Gier­ke, die nach des­sen Selbst­auf­lö­sung 1934 an die Schö­ne­ber­ger Schu­le über­gin­gen, wur­den vor­ab ent­spre­chend (aus)sortiert. „Ein Abgrund hat­te sich auf­ge­tan zwi­schen jenen, die aus dem Ren­nen waren, und jenen, die wei­ter­ma­chen zu kön­nen hoff­ten“1, wie Ali­ce Salo­mon in ihrer im Exil ver­fass­ten Auto­bio­gra­phie festhielt.

Eine gan­ze Rei­he der Ent­las­se­nen und Ver­trie­be­nen nahm zwi­schen den spä­ten 1940er und den 1960er Jah­ren wie­der Kon­takt zu „ihrer“ Schu­le auf. Vie­le taten dies auch, weil sie für ihre Ent­schä­di­gungs- und Wie­der­gut­ma­chungs­ver­fah­ren2 um Beschei­ni­gun­gen über ihre Ver­trei­bung von der Schu­le bit­ten muss­ten. Die­se Brie­fe, die heu­te als Bestand­teil der Ver­wal­tungs­ak­ten der Sozia­len Frau­en­schu­le und ihrer Nach­fol­ge­ein­rich­tun­gen im Ali­ce Salo­mon Archiv (ASA) der Ali­ce Salo­mon Hoch­schu­le Ber­lin erhal­ten wer­den, ermög­li­chen vie­ler­lei Ein­bli­cke in die bio­gra­phi­schen Ver­läu­fe der Ver­trie­be­nen nach ihrer Flucht.3 Ein gro­ßer Teil die­ser Brie­fe ent­hält knap­pe, for­ma­le Anfra­gen und war häu­fig über Drit­te – in der Regel Anwält:innen – ein­ge­reicht wor­den. Für deren Autor:innen bzw. Auftraggeber:innen scheint der „Abgrund“, den Salo­mon benann­te, wei­ter­hin mani­fest zu sein.

Ande­re Brie­fe las­sen sich hin­ge­gen als Ver­such lesen, neue Ver­bin­dun­gen her­zu­stel­len. Zu die­sen zählt das Schrei­ben der Sozi­al­ar­bei­te­rin und Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin Dr. Dora Bern­hard (geb. Fried­län­der) an die Sekre­tä­rin des Semi­nars für Sozia­le Arbeit Ingrid Roe­der4 aus dem ita­lie­ni­schen Exil, das im Jubi­lä­ums­jahr an der Schu­le ein­traf. Die pro­mo­vier­te Natio­nal­öko­no­min Bern­hard war bereits 1933 aus ihrem Arbeits­ver­hält­nis mit dem Jugend­heim Char­lot­ten­burg ent­las­sen wor­den. In ihrem Brief bit­tet sie für das von ihr ange­streng­te Ent­schä­di­gungs­ver­fah­ren um eine Bestä­ti­gung dar­über, dass die­se Ent­las­sung poli­tisch moti­viert gewe­sen sei. Dies sei, so Bern­hard, „aus begreif­li­chen Grün­den“5 in ihrem Ent­las­sungs­zeug­nis nicht doku­men­tiert wor­den. Aus dem aus­führ­li­chen Lebens­lauf, den Bern­hard ihrem Brief bei­gelegt hat­te, erfah­ren wir, dass sie eini­ge Jah­re nach der Ent­las­sung, in denen sie sich mit „wis­sen­schaft­li­cher Hilfs­ar­beit“6 durch­ge­schla­gen habe, wegen zuneh­men­der Bedro­hung und Ver­fol­gung nach Ita­li­en aus­ge­wan­dert sei. Dort habe sie sich erneut unter bedroh­li­chen Bedin­gun­gen eine neue, erfolg­rei­che Exis­tenz als Psy­cho­the­ra­peu­tin aufgebaut.

Ihr Brief zeugt davon, dass Bern­hard sich mit ihrer Anfra­ge an ihre ehe­ma­li­ge Kol­le­gin einer schwie­ri­gen Balan­ce­auf­ga­be stellt. Im Brief begrüßt sie den „direkt[en] Kon­takt“ mit der nun schon ein Vier­tel­jahr­hun­dert zurück­lie­gen­den, „immer leben­dig geblie­be­nen Ver­gan­gen­heit“ und wünscht, von der Adres­sier­ten auch „per­sön­lich“ zu hören.7 Mit ihrem Anlie­gen hofft Bern­hard, „nicht all­zu­gros­se Mühe“ zu machen; am Ende grüßt sie „dank­bar und freund­schaft­lich“8. Dass ihre anti­se­mi­tisch moti­vier­te Ent­las­sung von Roe­der selbst und ande­ren Kolleg:innen min­des­tens gebil­ligt wor­den war9, benennt Bern­hard nicht. Statt­des­sen nennt sie als Ursa­che die „natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ras­sen­ge­set­ze“. Zum Zeit­punkt von Bern­hards Ent­las­sung, dem 14. März 1933, exis­tier­ten die­se jedoch noch nicht – gleich­wohl den spä­te­ren Geset­zen ent­spre­chen­de Prak­ti­ken bereits unmit­tel­bar nach der Macht­über­tra­gung eta­bliert wur­den.10

Die­se viel­leicht neben­säch­lich erschei­nen­de Unge­reimt­heit lie­ße sich leicht dem gro­ßen zeit­li­chen Abstand oder dem Trau­ma der Ver­trei­bung geschul­de­ten Ver­drän­gungs­pro­zes­sen zuschrei­ben. Gehen wir jedoch davon aus, dass Bern­hard mehr­fach Anlass hat­te, sich inten­siv mit ihrer eige­nen Flucht­ge­schich­te zu befas­sen, erge­ben sich noch wei­te­re mög­li­che Les­ar­ten. So ist Bern­hard für den Erfolg ihres Anlie­gens auf die Koope­ra­ti­on ihrer Adres­sa­tin ange­wie­sen und gibt ihr die For­mu­lie­rung, die für ihren Ent­schä­di­gungs­an­trag ent­schei­dend sein kann, gewis­ser­ma­ßen vor. Zugleich bewirkt ihre auch sehr per­sön­li­che Züge auf­wei­sen­de Anspra­che, dass der neu eta­blier­te Kon­takt auch von even­tu­el­len Schuld­vor­wür­fen frei bleibt.

Neben die­ses Span­nungs­feld tritt ein wei­te­res, das sich vor allem im dem Brief bei­gefüg­ten Lebens­lauf abbil­det. Im Rah­men ihres Ent­schä­di­gungs­ver­fah­rens muss­te Dora Bern­hard den Grund der Ent­las­sung nicht nur durch Beschei­ni­gun­gen bele­gen, son­dern auch nach­voll­zieh­bar machen; sie muss­te sich also selbst als Jüdin im Sin­ne der Nürn­ber­ger Geset­ze „les­bar“ machen. Dies war offen­bar kei­nes­wegs tri­vi­al; ver­mut­lich auch des­halb, weil die Fami­lie Bern­hards über Gene­ra­tio­nen hin­weg christ­lich getauft und sozia­li­siert wor­den war.11 Allein der Groß­va­ter Bern­hards väter­li­cher­seits, der – eben­falls getauf­te – His­to­ri­ker Prof. Dr. Lud­wig Fried­län­der, galt nach den Geset­zen als soge­nann­ter „Voll­ju­de“. „Der Ras­se nach“ sei sie „Misch­ling“, ihr Groß­va­ter väter­li­cher­seits sei „Voll­ju­de“, ihr Vater also „Halb­ju­de.“12 „Ich bin zu einem Vier­tel jüdi­scher Abstam­mung,“13 so Bernhard.
Auch wenn wir nicht wis­sen, war­um sie die­se For­mu­lie­rung wähl­te, ist anzu­neh­men, dass die Form des Ent­schä­di­gungs­an­trags eine sol­che ras­sis­ti­sche Iden­ti­fi­zie­rung, in der Bern­hard die Spra­che der Täter:innen distanz­los über­nahm, förm­lich erzwun­gen haben muss. Hin­zu kommt, dass zu die­sem Zeit­punkt die äußerst restrik­ti­ve Wie­der­gut­ma­chungs­po­li­tik bereits hin­läng­lich bekannt gewe­sen war.14 So ver­wun­dert es nicht, dass sich die­ser Duk­tus wei­ter fort­setzt. Da ihr Ver­lob­ter15 „Voll­ju­de“ sei, sei ihre „an sich schon bedräng­te Lage immer unhalt­ba­rer“ gewor­den.16 So ent­schloss sich das Paar im Dezem­ber 1936 zu einer gemein­sa­men Flucht nach Italien.

Wie die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­trei­bung von Per­so­nen aus öffent­li­chen Insti­tu­tio­nen und Ämtern kon­kret umge­setzt wor­den ist, wer die Täter:innen und Unterstützer:innen waren und wer sich wider­setz­te, ist bis heu­te nicht umfas­send erforscht. Auch für die Erfor­schung der Vor­läu­fer­insti­tu­tio­nen der heu­ti­gen Ali­ce Salo­mon Hoch­schu­le bil­det die­ses Kapi­tel ihrer Insti­tu­ti­ons­ge­schich­te wei­ter­hin ein Desiderat.

Die Brie­fe, die die Betrof­fe­nen an ihre ehe­ma­li­ge Schu­le schick­ten, bie­ten zwar dies­be­züg­lich nur wenig Auf­schluss, sind jedoch äußerst auf­schluss­reich für Fra­ge­stel­lun­gen, die sich den Lebens­ge­schich­ten der Über­le­ben­den im Spie­gel ihrer Ver­trei­bungs­er­fah­rung zuwen­den. Die­se Selbst­zeug­nis­se doku­men­tie­ren indi­vi­du­el­le Erinnerungs‑, Deu­tungs- und Ver­ar­bei­tungs­wei­sen, die im Kon­text der pro­ble­ma­ti­schen Wie­der­gut­ma­chungs­po­li­tik der Bun­des­re­pu­blik ste­hen. Die­sen Kon­text, der die Brie­fe gewis­ser­ma­ßen über­formt, gilt es, sys­te­ma­tisch in der Ana­ly­se zu berücksichtigen.

Referenzen

  1. Ali­ce Salo­mon, Cha­rak­ter ist Schick­sal. Lebens­er­in­ne­run­gen, Weinheim/Basel 1983, S. 266–267.
  2. Die ver­meint­li­che „Wie­der­gut­ma­chung“ natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unrechts wur­de im Bun­des­ge­setz zur Ent­schä­di­gung für Opfer der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­fol­gung (BEG) ab 1953 erst­mals bun­des­ein­heit­lich gere­gelt. Ein dar­in erfass­ter Scha­dens­tat­be­stand ist der soge­nann­te Scha­den im beruf­li­chen und wirt­schaft­li­chen Fort­kom­men, der u.a. durch eine ent­spre­chen­de Schul­be­schei­ni­gung belegt wer­den konn­te (vgl. Wal­ter Schwarz, Die Wie­der­gut­ma­chung natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unrechts durch die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Ein Über­blick, in: Ludolf Herbst und Con­stan­tin Gosch­ler (Hrsg.), Wie­der­gut­ma­chung in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Ber­lin 2019, S. 33–54).
  3. Zu die­sen Doku­men­ten bil­den die Akten der Ber­li­ner Ent­schä­di­gungs­be­hör­de im Lan­des­amt für Bür­ger- und Ord­nungs­an­ge­le­gen­hei­ten (LABO) einen wert­vol­len Ergänzungsbestand.
  4. Ingrid Roe­der war seit 1917 Sozi­al­se­kre­tä­rin des Ver­eins Jugend­heim Char­lot­ten­burg und kam im Zuge des­sen erzwun­ge­ner Ver­eins­auf­lö­sung durch die Nationalsozialist:innen und der Über­nah­me der ehe­ma­li­gen Ver­eins­ein­rich­tun­gen durch das Pes­ta­loz­zi-Frö­bel-Haus Ber­lin (PFH Ber­lin) 1934 an das Semi­nar für Sozia­le Arbeit, die ehe­ma­li­ge Sozia­le Frau­en­schu­le. Nach­dem die dor­ti­ge Sekre­tä­rin Ilse Vah­len auf­grund ihrer jüdi­schen Her­kunft eben­falls ent­las­sen wur­de, trat Roe­der deren Nach­fol­ge an und blieb bis 1961 auf die­ser Stel­le tätig (vgl. Ali­ce Salo­mon Archiv, Bestand 1‑C1).
  5. Brief Dora Bern­hard an Ingrid Roe­der vom 29. August 1958. Ali­ce Salo­mon Archiv, 1‑C1.117, Bl. 65.
  6. Ebd., Bl. 66.
  7. Ebd., Bl. 65.
  8. Ebd.
  9. Die Ent­las­sung Bern­hards und wei­te­rer jüdi­scher bzw. als „nicht arisch“ mar­kier­ter Mitarbeiter:innen ist ver­mut­lich von den nach der Macht­über­tra­gung zur Kon­trol­le des Jugend­heims und des Pes­ta­loz­zi-Frö­bel-Hau­ses ein­ge­setz­ten Mit­glie­dern der Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Volks­wohl­fahrt – unter ihnen der Lei­ter des Ber­li­ner Lan­des­ju­gend- und Wohl­fahrts­am­tes Edu­ard Spie­wok – ange­ord­net wor­den (vgl. Hei­di Koschwitz, Das Jugend­heim Char­lot­ten­burg (1873−1934). Ein Bei­trag zur Geschich­te der sozia­len Frau­en­be­ru­fe in Ber­lin, Ber­lin, unver­öf­fentl. Diplom­ar­beit, S. 91).
  10. Die soge­nann­ten „Nürn­ber­ger Geset­ze“, in denen zwi­schen „Juden“, „Misch­lin­gen 1. und 2. Gra­des“ und „Deutsch­blü­ti­gen“ unter­schie­den wur­de, sind am 15. Sep­tem­ber 1935 erlas­sen wor­den. Auch das „Gesetz zur Wie­der­her­stel­lung des deut­schen Berufs­be­am­ten­tums“, das „Beam­te nicht ari­scher Abstam­mung“ von öffent­li­chen Ämtern aus­schloss und auch für die Sozi­al­ar­beits­schu­len galt, trat erst am 7. April 1933 – also ca. drei Wochen nach Bern­hards Ent­las­sung – in Kraft.
  11. Vgl. LABO, Akte Dora Bern­hard 371.430 (unpa­gi­niert).
  12. Brief Dora Bern­hard an Ingrid Roe­der vom 29. August 1958. Ali­ce Salo­mon Archiv, 1‑C1.117, Bl. 66.
  13. Ebd.
  14. Chris­ti­an Pross, Wie­der­gut­ma­chung. Der Klein­krieg gegen die Opfer, Frank­furt am Main 1988. Aus der im LABO erhal­te­nen Ver­fah­rens­ak­te geht her­vor, dass Bern­hard nach vie­len Jah­ren Begut­ach­tungs­dau­er kei­ner­lei Ent­schä­di­gungs­leis­tun­gen erhielt. Als Grund wur­de ange­ge­ben, dass sie zum Zeit­punkt ihrer Ent­las­sung nicht in einem sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­ti­gen, son­dern in einem selb­stän­di­gen Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis zum Jugend­heim gestan­den habe (vgl. LABO, Akte Dora Bern­hard 371.430 (unpa­gi­niert)).
  15. Es han­delt sich dabei um den Kin­der­arzt und Psy­cho­the­ra­peu­ten Dr. Ernst Bern­hard, der eben­falls als Dozent am Sozi­al­päd­ago­gi­schen Semi­nar des Jugend­heims Char­lot­ten­burg tätig gewe­sen war (vgl. Brief von Ingrid Roe­der an Dora Bern­hard, 7.10.1958, ASA 1‑C1.117, Bl. 63).
  16. Brief Dora Bern­hard an Ingrid Roe­der vom 29. August 1958. Ali­ce Salo­mon Archiv, 1‑C1.117, Bl. 66–67.
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