„I helped my family, we escaped on our own. Immediately after the attacks, our Roma people, relatives and members of our community, when they found out about the attacks, they came to help us, many with their own cars.”1
Geschichte der Unsichtbarmachung
Die Flucht aus dem brennenden Sonnenblumenhaus, gemeinsam mit seiner Frau Leonora und fünf Kindern und dann, unmittelbar darauf, die Fahrt aus Lichtenhagen, organisiert von anderen Rom:nja – so erinnert Marian Dumitru die rassistischen Angriffe im August 1992, die heute als das größte Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte gelten. Vom 22. bis zum 24. August griffen hunderte Gewalttäter:innen unter dem Beifall tausender Menschen ehemalige Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam und Asylsuchende an.2
Marian Dumitru und seine Familie hatte bereits der Weg von Rumänien nach Polen über zwei Wochen gekostet. Schließlich waren sie von Polen über die grüne Grenze nach Mecklenburg-Vorpommern und zu der Zentralen Aufnahmestelle (ZASt) in Rostock-Lichtenhagen gekommen. Im postsozialistischen Rumänien waren er und seine Familie als Rom:nja zuvor von rassistischer Marginalisierung und extremer Armut betroffen. In Deutschland hofften sie nun auf ein besseres und sicheres Leben, besonders für die Kinder.
Dass Marian Dumitru in einem Interview über seine Erinnerungen spricht, ist alles andere als selbstverständlich. Trotz der großen symbolischen Bedeutung und medialen Präsenz des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen war über die in der ZASt angegriffenen Asylsuchenden über Jahrzehnte nahezu nichts bekannt. Die meisten von ihnen hatten vermutlich bald nach dem Pogrom Mecklenburg-Vorpommern wieder verlassen – aufgrund von Asylgesetzverschärfungen, Abschiebungen und der alltäglichen rechten Gewalt. In den zahlreichen Medialisierungen und den wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Pogrom spielten ihre Perspektiven kaum eine Rolle.3 Institutionalisierter Rassismus und rassistisch strukturierte Diskurse griffen ineinander und ermöglichten das jahrzehntelange „silencing“ einer der beiden Hauptbetroffenengruppen des Pogroms.
Umso größer ist die Bedeutung der nachträglichen Dokumentation und Sichtbarmachung von Betroffenenerzählungen, z. B. mittels Interviews im Sinne der Oral History. Obwohl diese Interviews sich nicht als aus eigenem Antrieb verfasste „Selbstzeugnisse“ sondern eher als „Ego-Dokumente“ klassifizieren lassen, ermöglichen sie doch die Rekonstruktion der Wahrnehmungen, Deutungen, Bewertungen und Handlungen der Betroffenen selbst. Tatsächliche Selbstzeugnisse in Form von Briefen oder Tagebüchern von betroffenen Asylsuchenden sind bisher nicht bekannt.
Dank der Zusammenarbeit mit Rom:nja-Selbstorganisationen und Wissenschaftler:innen aus Deutschland und Rumänien konnten wir mit dem Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“ seit 2022 Interviews mit mehreren Betroffenen führen lassen, die aus Rom:nja-Communities im Süden Rumäniens stammen und das Pogrom als Asylsuchende in der Lichtenhäger ZASt erleben mussten. Anlässlich des 31. Jahrestages des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen sprachen im August 2023 erstmals Betroffene aus Rumänien bei einem öffentlichen Zeitzeug:innengespräch im Rostocker Rathaus.4
Die Erzählungen der Betroffenen zeigen für uns als Rostocker:innen, die wir zum Pogrom in Lichtenhagen forschen, völlig neue Perspektiven auf das Ereignis. Und sie werfen völlig neue Fragen auf.
Selbstschutz und Kontinuitäten der Verfolgung
Im eingangs vorgestellten Zitat berichtet Marian Dumitru von der Selbstrettung aus dem brennenden Sonnenblumenhaus. Diese Erzählung findet sich in mehreren der Interviews. In unseren Rekonstruktionen des Pogroms sind wir jedoch bisher davon ausgegangen, dass alle Asylsuchenden aus der ZASt am dritten Tag des Pogroms aus dem Haus gebracht wurden, bevor das Haus dann in Brand gesetzt wurde. Welche Situation die Zeitzeug:innen hier beschreiben, konnten wir bisher nicht rekonstruieren. Dieses Unvermögen sagt viel aus über den Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Pogroms in Lichtenhagen.
Marian Dumitru berichtet außerdem, von anderen Rom:nja mit Autos aus Rostock-Lichtenhagen abgeholt worden zu sein. Auch diese Erzählung vom selbstorganisierten und selbstbestimmten Verlassen der Stadt war bisher völlig unbekannt. Beide Erzählungen verdeutlichen die Wirkmächtigkeit der Selbstschutzmaßnahmen von Betroffenen rechter Gewalt angesichts des Versagens der staatlichen Sicherheitskräfte. Offensichtlich ist die Parallele zur Selbstrettung der vietnamesischen Betroffenen am dritten Tag des Pogroms über das Dach des brennenden Sonnenblumenhauses.5
Die Flucht aus Rostock bedeutete jedoch keineswegs ein Ende der rassistischen Gewalt. Marian Dumitru erinnert weitere Angriffe, die so massiv waren, dass er schließlich nach Rumänien zurückkehrte:
“In every Roma populated area, these notices were every day. They arsoned, they attacked, they came after us. I remained five or six months more, until one point when I could not resist anymore. I left. I left and there is a saying: The way I left from home, the same way I returned.”6
Diese Erzählung verdeutlicht, dass das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen keine Ausnahmeerscheinung war, sondern im Kontext anderer Angriffe gesehen werden muss. Gerade deshalb sollte die zeitgeschichtliche Forschung ihren Blick weg von den medial präsenten Ereignissen und hin zu den „kleinen“ Angriffen, den vergessenen Pogromen und der Alltäglichkeit der rechten Gewalt lenken.
Zum Ende des Interviews schlägt Marian Dumitru einen weiten geschichtlichen Bogen. Auf die Frage, wie er heute über die Angriffe in Rostock reflektieren würde, antwortet er:
“What can I say? I have studied up until the 10th grade. I have read previously about the Second World War, and I know what happened, and what they did to the Roma people. Reflecting upon this event, I think they wanted to do the same to us.“7
Dieser Verweis auf die Verfolgung von Rom:nja im Nationalsozialismus erscheint naheliegend. Unter der mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündeten Militärdiktatur Ion Antonescus wurden mehr als 25.000 Rom:nja nach Transnistrien deportiert und mindestens die Hälfte von ihnen ermordet. Zu den in Lichtenhagen angegriffenen rumänischen Rom:nja gehörten mit sehr großer Wahrscheinlichkeit sowohl Überlebende des nationalsozialistischen Völkermords als auch ihre Kinder und Enkelkinder. In Untersuchungen zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen hat die Kontinuität der rassistischen Gewalt8, bisher – wenn überhaupt – nur auf der Ebene der Ideologie eine Rolle gespielt.9 Welche Bedeutung diese Kontinuität auf der Ebene der konkret Betroffenen hat, ist bisher nicht einmal gefragt worden.
Zeugnis ablegen – für wen?
Seit seiner Rückkehr nach Rumänien lebt Marian Dumitru mit seiner Familie im südrumänischen Craiova. Gemeinsam mit seiner Frau Leonora arbeitete er lange auf dem von Rom:nja betriebenen Markt der Großstadt.10 Dieser Markt wurde von der Stadtverwaltung im Sommer 2023 geschlossen, um Platz für Ladestationen von E‑Bussen zu machen. Trotz politischer Bemühungen gibt es bis heute keine Ausweichfläche für den Markt. Dutzende Familien verloren so ihre einzige Einnahmequelle.11
Dieser Umgang mit der Rom:nja-Community in Craiova ist nur ein Beispiel für die anhaltende Diskriminierung in Rumänien. Eine Konsequenz ist die Migration der Kinder und Enkelgeneration der Betroffenen des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen – nun häufig nicht mehr nach Deutschland, sondern in die USA, wo sie sich in den gleichen Kreisläufen von Illegalisierung und Gewalt wiederfinden wie ihre Eltern dreißig Jahre zuvor.12
In den vergangenen beiden Jahren haben die Betroffenen aus Craiova viel Kraft und Zeit in das Geben von Interviews oder die Reisen zu Veranstaltungen in Rostock investiert. Die Perspektiven der Zeitzeug:innen aus Rumänien haben seit 2022 die Forschung und das Gedenken zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen wesentlich geprägt und erweitert. Für die lokale Politik und Zivilgesellschaft ist es ein symbolischer Gewinn, wenn betroffene Rom:nja bei Gedenkveranstaltungen sprechen. Für uns als Forscher:innen eröffnen sich, wie oben beschrieben, völlig neue Perspektiven und Fragen. So profitieren wir mehrfach von den Zeugnissen der Betroffenen. Dieses Missverhältnis von wissenschaftlicher und gedenkpolitischer Verwertung ohne direkte Vorteile für die Betroffenen lässt sich als Teil der oben beschriebenen Kontinuität gadjé-rassistischer Strukturen verstehen.
Umso wichtiger erscheint es uns jetzt, die Frage nach der Verantwortung von lokalem Gedenken und Forschung zu stellen. Izabela Tiberiade, selbst Tochter von zwei Überlebenden des Pogroms, hat bei der Gedenkveranstaltung im August 2023 im Rostocker Rathaus klare Forderungen formuliert.13 Dazu zählen unter anderem die gleichberechtigte Beteiligung der Community in Craiova an Bildungs- und Forschungsprojekten, eine formelle Zusammenarbeit zwischen den Städten Rostock und Craiova und die Unterstützung bei der Kontaktaufnahme zur vietnamesischen Community Rostock. Eine Aufarbeitung des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen, die über die wissenschaftliche und gedenkpolitische Nutzung der Selbstzeugnisse von Betroffenen hinausgeht, muss diese Forderungen berücksichtigen.
Referenzen
- Interview mit Marian Dumitru vom 12.07.2022, Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“, Z. 93–95. Abrufbar unter: https://vimeo.com/786397714. Im Original auf rumänischem Romanes. Die Übersetzung ins Englische wurde von der Interviewerin Izabela Tiberiade vorgelegt.
- Mehr Informationen zum Pogrom in Rostock-Lichtenhagen finden sie in unserer Webdokumentation: app.lichtenhagen-1992.de
- Zur Ausblendung der Perspektiven von Asylsuchenden in der zeitgeschichtlichen Forschung siehe auch der Beitrag von Emilia Henkel.
- Die Interviews und ein Mitschnitt der Veranstaltung sind online einzusehen: https://app.lichtenhagen-1992.de/betroffene-romnja-aus-rumaenien/
- Dan Thy Nguyen, Eine geteilte Community. Kalter Krieg, Mauerfall und die vietnamesische Migrationsgeschichte, in: Lydia Lierke/Massimo Perinelli (Hrsg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020, S. 405–422, hier S. 419.
- Interview mit Marian Dumitru, Z. 117–120.
- Interview mit Marian Dumitru, Z. 136–138.
- Wir haben uns an dieser Stelle für den Begriff „Gadjé-Rassismus” entschieden, um die Ausübenden des Rassismus zu kennzeichnen. Gadjé ist eine romanes Bezeichnung für Nicht-Rom:nja. Der Begriff „Gadjé-Rassismus“ markiert so die Personen, von denen der Rassismus ausgeht, und nicht die Betroffenen, anders als beispielsweise der Begriff „Antiziganismus“. Dieser enthält die rassistische Fremdbezeichnung und hebt auf die Wirkmächtigkeit von Stereotype ab. Roxanna-Lorraine Witt: Gadjé-Rassismus. Ein analytischer Perspektivwechsel auf Kontinuitäten menschenfeindlicher Ideologien in weißer Kultur und Identität, in: Onur Suzan Nobrega/ Matthias Quent/ Jonas Zipf (Hrsg.): Rassismus. Macht. Vergessen. Von München über den NSU bis Hanau. Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors. Bielefeld, 2021, S. 125–144, hier S. 129f.
- Stephan Geelhaar/Ulrike Marz/Thomas Prenzel, “…und du wirst sehen, die hier wohnen werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen.”. Rostock-Lichtenhagen als antiziganistisches Pogrom und konformistische Revolte, in: Alexandra Bartels/Tobias von Borcke/Markus End/Anna Friedrich (Hrsg.), Antiziganistische Zustände 2. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse. Münster 2013, S. 140–161.
- Jean-Philipp Baeck/ Allegra Schneider, Die verschwundenen Roma, in: taz. die tageszeitung, 26.08.2022, https://taz.de/30-Jahre-Rostock-Lichtenhagen/!5874650/, abgerufen am 03.01.2024.
- Valentin Tudor, Dispare Târgul de Săptămână din Craiova?, in: Gazeta De Sud, 22.08.2023, https://www.gds.ro/Local/2023–08-22/dispare-targul-de-saptamana-din-craiova/, abgerufen am 03.01.2024.
- Soziale Bildung Rostock, Zeitzeug*inneninterviews mit überlebenden Rom*nja des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen 1992 / Izabela Tiberiade im Gespräch, in: Vimeo, 2022, https://vimeo.com/776250704, 00:26:07–00:28:43.
- Soziale Bildung Rostock, Hauptzeug*innen des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen (26.08.2023 im Rathaus Rostock), in: Vimeo, 2023, https://vimeo.com/877792187, 00:30:01–00:37:16.