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Et in Arcadia Ego.

Das Porträt Dora Schauls, Frankreich ca. 1941-1942

Text: Elad Oren

Auf einem Schwarz­weiß­bild sieht man eine jun­ge Frau. Sie trägt eine zuge­knöpf­te karier­te Blu­se mit gro­ßen glän­zen­den Knöp­fen, die in einen dunk­len Rock ein­ge­steckt ist. Ihr brau­nes, wel­li­ges Haar ist in einer ele­gan­ten, rela­tiv kur­zen Fri­sur gehal­ten, die nicht über ihre Schul­tern hin­aus­ragt. Es ist anmu­tig gebürs­tet und fällt ober­halb ihres rech­ten Auges sanft über ihre Stirn. Es scheint, als wür­de sie ste­hen und ihre Hän­de unter ihrer Hüf­te ver­schrän­ken. Ihre Hal­tung ist auf­recht und ihr Kopf ist hoch­ge­hal­ten. Sie schaut nicht direkt in die Kame­ra, son­dern leicht nach links oben, in Rich­tung der rech­ten Sei­te des Bildes.

Der Hin­ter­grund ist ver­schneit. Hin­ter der Frau sieht man einen stei­len Hang, der mit dich­ten Büschen und Bäu­men bedeckt ist und das Bild von rechts nach links durch­quert. Wei­ter hin­ten erstreckt sich ein sanft geneig­ter Hang von rechts nach links, bedeckt mit spär­li­cher Vege­ta­ti­on. Der unmit­tel­ba­re Hin­ter­grund ist expo­niert und brach. Er ist schnee­be­deckt, neigt sich leicht zur lin­ken Sei­te des Bil­des und führt zu etwas, was wie eine Bara­cke aus hel­lem Holz aus­sieht, mit einem klei­nen Fens­ter und einem Gie­bel­dach, das von einer dicken Schnee­schicht bedeckt ist und eine ähn­li­che Struk­tur dahin­ter verbirgt.

Die abge­bil­de­te Frau ist Dora Schaul, eine 29 Jah­re alte Insas­sin des Inter­nie­rungs­la­gers Camp de Rieu­cros in der Stadt Men­de im Süden Frank­reichs. Gebo­ren wur­de Schaul 1913 in Ber­lin in die Fami­lie David­son. Ihre Kind­heit ver­brach­te sie in Essen, spä­ter besuch­te sie eine Han­dels­schu­le, bevor sie als kauf­män­ni­sche Ange­stell­te in Ber­lin tätig wur­de. Im Jahr 1933 wan­der­te Schaul allein nach Ams­ter­dam aus, wo sie Alfred Ben­ja­min ken­nen­lern­te.1

Ben­ja­min, bekannt als Ben, der 1911 in Elber­feld gebo­ren wur­de, befand sich wie Schaul als deut­scher Jude im Exil, aller­dings haupt­säch­lich auf­grund sei­ner Mit­glied­schaft in der KPD. Nach der Macht­über­nah­me wur­de er ver­folgt und inhaf­tiert. Nach sei­ner Ent­las­sung im Jahr 1934 ver­ließ er Deutsch­land und sie­del­te nach Ams­ter­dam über. Dort lern­te er Dora ken­nen und das Paar zog gemein­sam nach Paris, wo es sich an Wider­stands­ak­ti­vi­tä­ten der KPD betei­lig­te. Im Okto­ber 1939, einen Monat nach dem Über­fall auf Polen, wur­den Schaul und Ben­ja­min als „feind­li­che Aus­län­der“ ver­haf­tet und im Camp de Rieu­cros inhaf­tiert.2

Etwa zu dem Zeit­punkt, als die Foto­gra­fie auf­ge­nom­men wur­de, plan­te das Paar, das mitt­ler­wei­le hei­ra­ten konn­te, sei­ne Flucht aus dem Lager. Im Febru­ar 1942 wur­de das Inter­nie­rungs­la­ger von Rieu­cros aller­dings ange­sichts der bevor­ste­hen­den Depor­ta­tio­nen von Jüdin­nen und Juden aus Frank­reich geschlos­sen und das Paar dabei getrennt: Schaul wur­de in das Inter­nie­rungs­la­ger Brens und Ben­ja­min in die Arbeits­la­ger in Cha­nac transferiert.

Im Som­mer des­sel­ben Jah­res gelang es Dora und Ben getrennt zu flie­hen. Gemäß ihres Plans soll­ten sie sich in Vichy-Frank­reich ver­ste­cken und spä­ter wie­der ver­ei­nen.3 Sie haben sich jedoch nie wie­der­ge­se­hen: Bei sei­nem Ver­such über die Alpen in die Schweiz zu flie­hen, ver­un­glück­te Ben kurz vor dem Grenz­über­tritt töd­lich an einem Berg. Eini­ge Zeit spä­ter wur­de sein Leich­nam gefun­den. Bei ihm befan­den sich rund sech­zig Doku­men­te und Foto­gra­fien – dar­un­ter das Por­trät von Dora Schaul.

Mit gefälsch­ten Doku­men­ten und unter fik­ti­ven Iden­ti­tä­ten über­leb­te Dora Schaul als Mit­glied der Résis­tance den Krieg und die Sho­ah in Frank­reich.4 Nach Kriegs­en­de kehr­te sie nach Deutsch­land zurück und ließ sich in Ost-Ber­lin nie­der. Die Doku­men­te, die bei Ben­ja­mins Leich­nam gefun­den wur­den, wur­den spä­ter an sie über­ge­ben. Im Jahr 2017 über­ließ Peter Schaul, der Sohn von Dora Schaul, den Nach­lass sei­ner Mut­ter dem Jüdi­schen Muse­um Ber­lin, inklu­si­ve der Unter­la­gen, die Ben­ja­min wäh­rend sei­nes Flucht­ver­suchs bei sich trug.

Das Bild erscheint zwei­fel­los insze­niert, als ob man ver­sucht hät­te, die Rea­li­tät über ihre Gren­zen hin­aus­zu­drän­gen: Man sieht weder Sta­chel­draht­zäu­ne noch Wäch­ter oder ande­re Lagerinsass:innen. Ledig­lich die Bara­cken mit ihren Gie­bel­dä­chern, die wie Cha­lets in den Alpen wir­ken könn­ten, die­nen als ein­zi­ge Spu­ren dafür, dass es sich um ein Inter­nie­rungs­la­ger handelt.

Das Bild gehört sti­lis­tisch zu einem Gen­re, das in den 1930er-Jah­ren im deut­schen Bür­ger­tum weit ver­brei­tet war: Urlaubs­bil­der mit länd­li­chen und ber­gi­gen Land­schaf­ten, die die Ver­bun­den­heit von Mensch und Natur beto­nen und der Hei­mat­tra­di­ti­on fol­gen. Ofer Ash­ke­n­a­zi hebt in sei­ner Ana­ly­se von Foto­al­ben deut­scher Jüdin­nen und Juden aus den 1930er-Jah­ren her­vor, dass die Ver­än­de­run­gen in die­sen Foto­gra­fien Aus­druck einer Iden­ti­täts­kri­se infol­ge des erleb­ten äuße­ren und inne­ren Exils sei­en. Dies mani­fes­tiert sich bei­spiels­wei­se in der Abbil­dung von Urlaubs­fo­tos, die absicht­lich so auf­ge­nom­men wur­den, dass Ort und Zeit nicht erkenn­bar sind.5 Die­se Beob­ach­tung trifft eben­falls auf das Por­trät von Dora Schaul zu: Auf den ers­ten Blick könn­te man anneh­men, es hand­le sich um ein Urlaubs­bild. In die­sem Sin­ne erschafft die Foto­gra­fie ein Bild, das nicht dem rea­len Zustand der Din­ge – also der Inhaf­tie­rung im Lager – ent­spricht, son­dern dar­über hin­aus­geht und ihn in Rich­tung des gewünsch­ten, fan­tas­ti­schen Raums übertrifft.

Die Bedeu­tung des Por­träts geht jedoch über das blo­ße Schaf­fen eines ver­lo­re­nen Hei­mat­bil­des hin­aus. Es lässt sich eben­falls als Ableh­nung der Rea­li­tät und als Ver­such, die­se zu ver­än­dern, inter­pre­tie­ren: Indem das Bild Schaul nicht als Gefan­ge­ne, son­dern so abbil­det, wie sie gese­hen wer­den woll­te, setzt es sich der Demü­ti­gung ent­ge­gen, die Schaul und ande­re Jüdin­nen und Juden auf­grund ihres Jüdisch­seins erfah­ren haben.

Dar­über hin­aus ist der Akt des Foto­gra­fie­rens an sich eine Form von Wider­stand. Die Auf­nah­me der Foto­gra­fie wur­de gezielt insze­niert, nicht nur, um ein posi­ti­ves Bild von Schaul in der Gegen­wart zu ver­mit­teln, son­dern auch, um die künf­ti­ge Erin­ne­rung zu gestal­ten. Die Foto­gra­fie soll­te spä­ter ver­deut­li­chen, dass die Zeit im Lager und im Exil kei­ne ver­lo­re­ne Zeit war. Damit rich­tet sich der Blick nicht nur in die Gegen­wart, son­dern auch in die Zukunft und spie­gelt wie­der­um den Wil­len zum Über­le­ben wider.

Die mate­ri­el­le Dimen­si­on der Foto­gra­fie ver­mit­telt neben der bild­li­chen auch die bio­gra­fi­sche Geschich­te von Alfred Ben­ja­min. Die wei­ßen Fle­cken an den Bild­rän­dern, wel­che eine Lee­re erzeu­gen und das Bild zu zer­fres­sen dro­hen, sind ein stil­les Zeug­nis von Ben­ja­mins Flucht­ver­such und sei­nem tra­gi­schen Tod. Der Schim­mel­scha­den ist kein Sym­bol des Todes, son­dern der Tod selbst. Ähn­lich wie die Schat­ten, die die Hir­ten auf dem uner­war­te­ten Grab­stein im Gemäl­de von Nico­las Pous­sins „Et in Arca­dia Ego” wer­fen, sind die Schim­mel­flo­cken an den Rän­dern der Foto­gra­fie eine Spur der Rea­li­tät, die das Bild zu ver­ber­gen versuchte.

In einem wei­te­ren Sin­ne reprä­sen­tiert die drei­fa­che Bedeu­tungs­ebe­ne der Foto­gra­fie drei der Hand­lungs­mög­lich­kei­ten für Jüdin­nen und Juden nach der Aus­wei­tung der Mord­po­li­tik der Natio­nal­so­zia­lis­ten ab Ende 1941: Flucht, Ver­steck und Wider­stand. Die Ent­schei­dung für einen die­ser Wege barg ein enor­mes Risi­ko. Die in der Foto­gra­fie mit­ein­an­der ver­floch­te­nen Geschich­ten zeu­gen also von unbeug­sa­mer Tap­fer­keit und Ent­schlos­sen­heit, was dem gän­gi­gen Bild von Jüdin­nen und Juden als pas­si­ven Opfern widerspricht.

Mit sei­nen beson­de­ren Merk­ma­len offen­bart das Por­trät von Dora Schaul eine ande­re Sei­te der Geschich­te der Sho­ah: Die Foto­gra­fie wur­de nicht auf­ge­nom­men, um die Umstän­de unter denen sie ent­stand zu doku­men­tie­ren und war nicht dazu bestimmt, ver­öf­fent­licht zu wer­den, son­dern dien­te pri­va­ten Zwe­cken. Der Blick­win­kel ist der der Ver­folg­ten und er rich­tet sich nach innen indem er ver­sucht, sich selbst durch die Lin­se abzu­bil­den. Wie Ofer Ash­ke­n­a­zi betont, sei die Kame­ra ein Werk­zeug in den Hän­den deut­scher Jüdin­nen und Juden gewe­sen, mit dem sie kri­tisch auf die Gegen­wart und die Ver­gan­gen­heit blick­ten und den Ver­lust ihrer Hei­mat und Iden­ti­tät ver­ar­bei­te­ten.6 In die­sem Sin­ne ergänzt die Ana­ly­se des Por­träts von Dora Schaul die Visu­al Histo­ry des Natio­nal­so­zia­lis­mus und der Sho­ah, indem sie die Per­spek­ti­ve und Erfah­rung der Ver­folg­ten in den Vor­der­grund stellt.

Die Inter­pre­ta­ti­on des Por­träts Dora Schauls demons­triert, wie drei Dimen­sio­nen einer Foto­gra­fie als his­to­ri­sche Quel­le drei unter­schied­li­che Bedeu­tungs­ebe­nen ein­schlie­ßen kön­nen. Ers­tens: Obwohl das Bild einen rea­len Moment, der irgend­wo und irgend­wann pas­siert ist, ein­fängt und in die­sem Sin­ne von der Rea­li­tät abhängt, kann es die­se über­schrei­ten und ein fan­tas­ti­sches Bild der Wirk­lich­keit prä­sen­tie­ren. Zwei­tens ist der Akt des Foto­gra­fie­rens an sich bedeu­tungs­voll: In die­sem Fall kann er als Akt des Wider­stands ver­stan­den wer­den, als eine Hand­lung die den Unwil­len, die Rea­li­tät zu akzep­tie­ren und den Wunsch, sie zu ver­än­dern, reflek­tiert. Die­se bei­den Dimen­sio­nen – das Bild und die Foto­gra­fie – rich­ten sich zeit­wei­se bei­de auf die Gegen­wart, indem sie ver­su­chen, ein Bild zu schaf­fen, das die Rea­li­tät her­aus­for­dert. Aller­dings rich­ten sie sich dar­über hin­aus auf die Zukunft: Das Bild strebt danach, die zukünf­ti­ge Erin­ne­rung zu for­men, wäh­rend der Akt des Foto­gra­fie­rens den Wunsch zum Aus­druck bringt, zu über­le­ben. Drit­tens erzählt die mate­ri­el­le Dimen­si­on der Foto­gra­fie deren Geschich­te als Objekt. Die Ver­bin­dung zwi­schen der mate­ri­el­len Dimen­si­on der Foto­gra­fie, den dar­auf vor­han­de­nen Schä­den und dem dar­ge­stell­ten Bild ver­leiht Dora Schauls Foto­gra­fie einen erheb­li­chen his­to­ri­schen Wert. Es han­delt sich um eine his­to­ri­sche Quel­le, die nicht nur die indi­vi­du­el­len Geschich­ten wäh­rend der Sho­ah zum Aus­druck bringt, son­dern der es auf gewis­se Wei­se auch gelingt, die erleb­ten Erfah­run­gen zu vermitteln.

Referenzen

  1. Vgl. o.A., Bio­gra­fie Dora Schaul, in: Gedenk­stät­te Deut­scher Wider­stand online,
    https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/dora-schaul/, abge­ru­fen am 03.01.2024.
  2. Vgl. Ulri­ke Neu­wirth, Video „Our Sto­ries: Alfred Ben­ja­min“, in: Jüdi­sches Muse­um Ber­lin online, 2023,
    https://www.jmberlin.de/dauerausstellung#lightbox-3676, abge­ru­fen am 05.01.2024.
  3. Vgl. Jüdi­sches Muse­um Ber­lin, Das Fami­li­en­al­bum. Podi­ums­ge­spräch mit Stif­ter Peter Schaul und Mitarbeiter*innen des Muse­ums­ar­chivs am 09.11.2020, in: Jüdi­sches Muse­um Ber­lin online, https://www.jmberlin.de/familienalbum-podiumsgespraech-livestream, abge­ru­fen am 03.01.2024.
  4. Vgl. Dora Schaul, „Als ‚Fran­zö­sin’ in Dienst­stel­len der Wehr­macht“, in: Dies. (Hrsg.), Résis­tance – Erin­ne­run­gen, Ber­lin 1973, S. 329.
  5. Vgl. Ofer Ash­ke­n­a­zi, Exi­le at Home. Jewish Ama­teur Pho­to­gra­phy under Natio­nal Socia­lism 1933–1939, in: Leo Baeck Insti­tu­te Year Book 64 (2019), S. 123–133.
  6. Vgl. Ash­ke­n­a­zi, Exi­le at Home, S. 117–119.
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