Auf einem Schwarzweißbild sieht man eine junge Frau. Sie trägt eine zugeknöpfte karierte Bluse mit großen glänzenden Knöpfen, die in einen dunklen Rock eingesteckt ist. Ihr braunes, welliges Haar ist in einer eleganten, relativ kurzen Frisur gehalten, die nicht über ihre Schultern hinausragt. Es ist anmutig gebürstet und fällt oberhalb ihres rechten Auges sanft über ihre Stirn. Es scheint, als würde sie stehen und ihre Hände unter ihrer Hüfte verschränken. Ihre Haltung ist aufrecht und ihr Kopf ist hochgehalten. Sie schaut nicht direkt in die Kamera, sondern leicht nach links oben, in Richtung der rechten Seite des Bildes.
Der Hintergrund ist verschneit. Hinter der Frau sieht man einen steilen Hang, der mit dichten Büschen und Bäumen bedeckt ist und das Bild von rechts nach links durchquert. Weiter hinten erstreckt sich ein sanft geneigter Hang von rechts nach links, bedeckt mit spärlicher Vegetation. Der unmittelbare Hintergrund ist exponiert und brach. Er ist schneebedeckt, neigt sich leicht zur linken Seite des Bildes und führt zu etwas, was wie eine Baracke aus hellem Holz aussieht, mit einem kleinen Fenster und einem Giebeldach, das von einer dicken Schneeschicht bedeckt ist und eine ähnliche Struktur dahinter verbirgt.
Die abgebildete Frau ist Dora Schaul, eine 29 Jahre alte Insassin des Internierungslagers Camp de Rieucros in der Stadt Mende im Süden Frankreichs. Geboren wurde Schaul 1913 in Berlin in die Familie Davidson. Ihre Kindheit verbrachte sie in Essen, später besuchte sie eine Handelsschule, bevor sie als kaufmännische Angestellte in Berlin tätig wurde. Im Jahr 1933 wanderte Schaul allein nach Amsterdam aus, wo sie Alfred Benjamin kennenlernte.1
Benjamin, bekannt als Ben, der 1911 in Elberfeld geboren wurde, befand sich wie Schaul als deutscher Jude im Exil, allerdings hauptsächlich aufgrund seiner Mitgliedschaft in der KPD. Nach der Machtübernahme wurde er verfolgt und inhaftiert. Nach seiner Entlassung im Jahr 1934 verließ er Deutschland und siedelte nach Amsterdam über. Dort lernte er Dora kennen und das Paar zog gemeinsam nach Paris, wo es sich an Widerstandsaktivitäten der KPD beteiligte. Im Oktober 1939, einen Monat nach dem Überfall auf Polen, wurden Schaul und Benjamin als „feindliche Ausländer“ verhaftet und im Camp de Rieucros inhaftiert.2
Etwa zu dem Zeitpunkt, als die Fotografie aufgenommen wurde, plante das Paar, das mittlerweile heiraten konnte, seine Flucht aus dem Lager. Im Februar 1942 wurde das Internierungslager von Rieucros allerdings angesichts der bevorstehenden Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Frankreich geschlossen und das Paar dabei getrennt: Schaul wurde in das Internierungslager Brens und Benjamin in die Arbeitslager in Chanac transferiert.
Im Sommer desselben Jahres gelang es Dora und Ben getrennt zu fliehen. Gemäß ihres Plans sollten sie sich in Vichy-Frankreich verstecken und später wieder vereinen.3 Sie haben sich jedoch nie wiedergesehen: Bei seinem Versuch über die Alpen in die Schweiz zu fliehen, verunglückte Ben kurz vor dem Grenzübertritt tödlich an einem Berg. Einige Zeit später wurde sein Leichnam gefunden. Bei ihm befanden sich rund sechzig Dokumente und Fotografien – darunter das Porträt von Dora Schaul.
Mit gefälschten Dokumenten und unter fiktiven Identitäten überlebte Dora Schaul als Mitglied der Résistance den Krieg und die Shoah in Frankreich.4 Nach Kriegsende kehrte sie nach Deutschland zurück und ließ sich in Ost-Berlin nieder. Die Dokumente, die bei Benjamins Leichnam gefunden wurden, wurden später an sie übergeben. Im Jahr 2017 überließ Peter Schaul, der Sohn von Dora Schaul, den Nachlass seiner Mutter dem Jüdischen Museum Berlin, inklusive der Unterlagen, die Benjamin während seines Fluchtversuchs bei sich trug.
Das Bild erscheint zweifellos inszeniert, als ob man versucht hätte, die Realität über ihre Grenzen hinauszudrängen: Man sieht weder Stacheldrahtzäune noch Wächter oder andere Lagerinsass:innen. Lediglich die Baracken mit ihren Giebeldächern, die wie Chalets in den Alpen wirken könnten, dienen als einzige Spuren dafür, dass es sich um ein Internierungslager handelt.
Das Bild gehört stilistisch zu einem Genre, das in den 1930er-Jahren im deutschen Bürgertum weit verbreitet war: Urlaubsbilder mit ländlichen und bergigen Landschaften, die die Verbundenheit von Mensch und Natur betonen und der Heimattradition folgen. Ofer Ashkenazi hebt in seiner Analyse von Fotoalben deutscher Jüdinnen und Juden aus den 1930er-Jahren hervor, dass die Veränderungen in diesen Fotografien Ausdruck einer Identitätskrise infolge des erlebten äußeren und inneren Exils seien. Dies manifestiert sich beispielsweise in der Abbildung von Urlaubsfotos, die absichtlich so aufgenommen wurden, dass Ort und Zeit nicht erkennbar sind.5 Diese Beobachtung trifft ebenfalls auf das Porträt von Dora Schaul zu: Auf den ersten Blick könnte man annehmen, es handle sich um ein Urlaubsbild. In diesem Sinne erschafft die Fotografie ein Bild, das nicht dem realen Zustand der Dinge – also der Inhaftierung im Lager – entspricht, sondern darüber hinausgeht und ihn in Richtung des gewünschten, fantastischen Raums übertrifft.
Die Bedeutung des Porträts geht jedoch über das bloße Schaffen eines verlorenen Heimatbildes hinaus. Es lässt sich ebenfalls als Ablehnung der Realität und als Versuch, diese zu verändern, interpretieren: Indem das Bild Schaul nicht als Gefangene, sondern so abbildet, wie sie gesehen werden wollte, setzt es sich der Demütigung entgegen, die Schaul und andere Jüdinnen und Juden aufgrund ihres Jüdischseins erfahren haben.
Darüber hinaus ist der Akt des Fotografierens an sich eine Form von Widerstand. Die Aufnahme der Fotografie wurde gezielt inszeniert, nicht nur, um ein positives Bild von Schaul in der Gegenwart zu vermitteln, sondern auch, um die künftige Erinnerung zu gestalten. Die Fotografie sollte später verdeutlichen, dass die Zeit im Lager und im Exil keine verlorene Zeit war. Damit richtet sich der Blick nicht nur in die Gegenwart, sondern auch in die Zukunft und spiegelt wiederum den Willen zum Überleben wider.
Die materielle Dimension der Fotografie vermittelt neben der bildlichen auch die biografische Geschichte von Alfred Benjamin. Die weißen Flecken an den Bildrändern, welche eine Leere erzeugen und das Bild zu zerfressen drohen, sind ein stilles Zeugnis von Benjamins Fluchtversuch und seinem tragischen Tod. Der Schimmelschaden ist kein Symbol des Todes, sondern der Tod selbst. Ähnlich wie die Schatten, die die Hirten auf dem unerwarteten Grabstein im Gemälde von Nicolas Poussins „Et in Arcadia Ego” werfen, sind die Schimmelflocken an den Rändern der Fotografie eine Spur der Realität, die das Bild zu verbergen versuchte.
In einem weiteren Sinne repräsentiert die dreifache Bedeutungsebene der Fotografie drei der Handlungsmöglichkeiten für Jüdinnen und Juden nach der Ausweitung der Mordpolitik der Nationalsozialisten ab Ende 1941: Flucht, Versteck und Widerstand. Die Entscheidung für einen dieser Wege barg ein enormes Risiko. Die in der Fotografie miteinander verflochtenen Geschichten zeugen also von unbeugsamer Tapferkeit und Entschlossenheit, was dem gängigen Bild von Jüdinnen und Juden als passiven Opfern widerspricht.
Mit seinen besonderen Merkmalen offenbart das Porträt von Dora Schaul eine andere Seite der Geschichte der Shoah: Die Fotografie wurde nicht aufgenommen, um die Umstände unter denen sie entstand zu dokumentieren und war nicht dazu bestimmt, veröffentlicht zu werden, sondern diente privaten Zwecken. Der Blickwinkel ist der der Verfolgten und er richtet sich nach innen indem er versucht, sich selbst durch die Linse abzubilden. Wie Ofer Ashkenazi betont, sei die Kamera ein Werkzeug in den Händen deutscher Jüdinnen und Juden gewesen, mit dem sie kritisch auf die Gegenwart und die Vergangenheit blickten und den Verlust ihrer Heimat und Identität verarbeiteten.6 In diesem Sinne ergänzt die Analyse des Porträts von Dora Schaul die Visual History des Nationalsozialismus und der Shoah, indem sie die Perspektive und Erfahrung der Verfolgten in den Vordergrund stellt.
Die Interpretation des Porträts Dora Schauls demonstriert, wie drei Dimensionen einer Fotografie als historische Quelle drei unterschiedliche Bedeutungsebenen einschließen können. Erstens: Obwohl das Bild einen realen Moment, der irgendwo und irgendwann passiert ist, einfängt und in diesem Sinne von der Realität abhängt, kann es diese überschreiten und ein fantastisches Bild der Wirklichkeit präsentieren. Zweitens ist der Akt des Fotografierens an sich bedeutungsvoll: In diesem Fall kann er als Akt des Widerstands verstanden werden, als eine Handlung die den Unwillen, die Realität zu akzeptieren und den Wunsch, sie zu verändern, reflektiert. Diese beiden Dimensionen – das Bild und die Fotografie – richten sich zeitweise beide auf die Gegenwart, indem sie versuchen, ein Bild zu schaffen, das die Realität herausfordert. Allerdings richten sie sich darüber hinaus auf die Zukunft: Das Bild strebt danach, die zukünftige Erinnerung zu formen, während der Akt des Fotografierens den Wunsch zum Ausdruck bringt, zu überleben. Drittens erzählt die materielle Dimension der Fotografie deren Geschichte als Objekt. Die Verbindung zwischen der materiellen Dimension der Fotografie, den darauf vorhandenen Schäden und dem dargestellten Bild verleiht Dora Schauls Fotografie einen erheblichen historischen Wert. Es handelt sich um eine historische Quelle, die nicht nur die individuellen Geschichten während der Shoah zum Ausdruck bringt, sondern der es auf gewisse Weise auch gelingt, die erlebten Erfahrungen zu vermitteln.
Referenzen
- Vgl. o.A., Biografie Dora Schaul, in: Gedenkstätte Deutscher Widerstand online,
https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/dora-schaul/, abgerufen am 03.01.2024. - Vgl. Ulrike Neuwirth, Video „Our Stories: Alfred Benjamin“, in: Jüdisches Museum Berlin online, 2023,
https://www.jmberlin.de/dauerausstellung#lightbox-3676, abgerufen am 05.01.2024. - Vgl. Jüdisches Museum Berlin, Das Familienalbum. Podiumsgespräch mit Stifter Peter Schaul und Mitarbeiter*innen des Museumsarchivs am 09.11.2020, in: Jüdisches Museum Berlin online, https://www.jmberlin.de/familienalbum-podiumsgespraech-livestream, abgerufen am 03.01.2024.
- Vgl. Dora Schaul, „Als ‚Französin’ in Dienststellen der Wehrmacht“, in: Dies. (Hrsg.), Résistance – Erinnerungen, Berlin 1973, S. 329.
- Vgl. Ofer Ashkenazi, Exile at Home. Jewish Amateur Photography under National Socialism 1933–1939, in: Leo Baeck Institute Year Book 64 (2019), S. 123–133.
- Vgl. Ashkenazi, Exile at Home, S. 117–119.