Auf dem Foto bleibt sie im Hintergrund. Sie schaut nicht in die Kamera. Ihren Blick richtet sie nach oben, in die Weite. In den Vordergrund schiebt sie drei große Fotografien, gerahmte Schulporträts ihrer Söhne Almir und Azmir und das Bild ihres Mannes Abdulah. In die rechten Ecken der gerahmten Bilder sind Passfotos von ihr und ihrem Mann gesteckt. Wir sehen sie mit ihrer Familie, und wir sehen sie allein im Hintergrund. Auf dem Bild trägt sie ein Kopftuch. Wir sehen ihre Hände, bevor wir ihr Gesicht wahrnehmen. Es ist das Gesicht einer ernsten, entschlossenen Frau. Wir wissen nichts über sie, über diese Mutter, über diese Familie, und doch ahnen wir auf den ersten Blick, dass diesem Foto eine tragische Geschichte vorausgeht. Das liegt daran, dass wir solche Bilder kennen: Spätestens seit den 1970er Jahren sind sie zu symbolischen Zeichen des Protests gegen Staatsverbrechen und politische Gewalt geworden.1 Von den „Madres de Plaza de Mayo“ („Mütter des Platzes der Mairevolution“) bis zu ihr, Hatidža Mehmedović, und ihren „Majke Srebrenice“ („Mütter von Srebrenica“) halten Frauen Bilder von ihren verschwundenen Familienangehörigen in die Kamera und fordern Aufklärung nach ihrem Verbleib. Dadurch sind ihre Fotos zu einem mächtigen Zeichen des Widerstands geworden und versinnbildlichen den vielschichtigen und kommunikativen Charakter von Fotografie als politisches Medium.2
Das Bild von Hatidža wurde 2009 vom Fotografen Amel Emrić aufgenommen, 14 Jahre nach dem Genozid von Srebrenica. Als am 11. Juli 1995 die Soldaten der bosnisch-serbischen Armee unterstützt durch Polizei und paramilitärische serbische Einheiten die UN-Schutzzone Srebrenica eroberten, hatte Hatidžas Familie bereits drei Jahre Belagerung unter widrigsten Bedingungen überlebt. Sie gehörten zu den Bosniaken, bosnischen Muslimen, die seit dem Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina im April 1992 stark unter Verfolgung und Vertreibung litten.3 Die niederländischen UN-Soldaten waren mit dem Angriff der serbischen Truppen überfordert. Schnell zeigte sich, dass das Versprechen einer Schutzzone nichts wert war. Die Armee der Republika Srpska unter dem Kommando von Ratko Mladić übernahm die Kontrolle: Seine Soldaten vertrieben die Menschen, töteten sie in ihren Häusern, griffen sie in den Wäldern auf, töteten sie in Gruben, in ehemaligen Fabriken, an Ort und Stelle, nur weil sie bosnische Muslime waren. Hatidža hatte es von ihrem Dorf bis zum UN-Hauptquartier in Potočari geschafft. Ihre Söhne und ihr Mann vertrauten der UN nicht und wollten die 70 Kilometer bis zum bosnisch-kontrollierten Territorium durch die Wälder im Fußmarsch laufen.4 Sie behielten recht: In Potočari trennten die serbischen Soldaten vor den Augen der niederländischen Blauhelme Männer von Frauen. Die Männer wurden später ermordet. Frauen, Kinder und Alte in Bussen nach Tuzla deportiert. Hatidža stieg in einen Bus ein und hoffte, Abdulah, Azim und Almir in Tuzla zu treffen. Am Straßenrand sah sie, wie Bosniaken mit erhobenen Armen abgeführt wurden. Aus ihrem Bus wurde ein Junge gewaltsam von seiner Mutter getrennt und mitgenommen. Sie glaubte nicht an ein Überleben, sondern daran, dass sie alle ermordet würden. Niemand von der UN war da, um zu kontrollieren, was die serbischen Einheiten mit ihnen machten.
Dennoch gelang es ihr, das von der bosnischen Armee kontrollierte Gebiet zu erreichen. Dort wartete sie mit anderen Frauen auf ihre Angehörigen, aber sie kamen nicht. Nach sechs Tagen schafften es vereinzelt andere und brachten schreckliche Geschichten mit. Über 8.000 Menschen fehlten. Die Überlebenden, die durch den Wald gelaufen waren, berichteten von Festnahmen, Erschießungen, Granaten, Tod. Hatidža hatte überlebt, aber von nun an war sie allein. Tage vergingen im Warten. Wochen des Wartens. Und täglich suchte sie nach ihren Angehörigen. Tröpfchenweise sickerten Nachrichten durch, hier und da wollten Überlebende Abdulah gesehen haben, andere Azmir, wieder andere Almir. Hatidža wusste nicht, was sie glauben sollte. In den Flüchtlingslagern starteten die Überlebenden eine erste Initiative und sammelten Fotos ihrer „Verschwundenen“. Oft waren es die Passfotos aus Dokumenten, die sie auf der Flucht in ihren Plastiktüten bei sich trugen. Die Frauen von Srebrenica handelten instinktiv, als sie diese Passfotos ihrer Männer ausstellten und ihnen ein Gesicht gaben. Listen von Namen entwickeln eine andere Wirkung als Fotografien. Und auch wenn Passbilder von Susan Sontag kritisch als Aneignung von Individuen und ihre Anpassung in das Schemata der staatlichen Klassifizierung und Speicherung bewertet wurden,5 bestätigten sie in diesem Fall, dass die verschwundenen Männer gelebt haben. Mit den Passbildern ihrer Männer zeugten die Frauen davon, dass das System die Existenz der Männer negierte, die es selbst dokumentiert hatte. Denn über ihr Verschwinden herrschte im serbisch kontrollierten Teil Bosnien-Herzegowinas (Republika Srpska) Schweigen. Während sich Überlebende an offizielle und halboffizielle Behörden, internationale und nationale Organisationen und bekannte und unbekannte Menschen wandten, um Informationen über die „Verschwundenen“ zu erlangen, versuchten die Verantwortlichen in der Republika Srpska die Massentötungen zu vertuschen. Sie öffneten die Massengräber, hoben die menschlichen Überreste aus und verscharrten sie teilweise hunderte von Kilometern weiter in Gruben, Dämmen und alten Tagewerken.6 In einem Massengrab sollten möglichst wenige Überreste bleiben, um den genozidalen Charakter des Verbrechens zu verschleiern.
2009, als ihr Bild entstand, galten die Söhne und der Mann von Hatidža weiterhin als vermisst. Seit 1996 und dem ersten Auffinden von Massengräbern suchte sie nach ihnen, zusammen mit anderen Frauen aus Srebrenica, im Rahmen ihrer Organisation „Majke Srebrenice“, die sie 2002 auch offiziell als Verein eintrugen. Hatidža stieg auf als ihre Vorsitzende. Der Genozid drängte diese häufig sehr traditionellen Frauen aus ihren privaten Rollen in die Rolle von Aktivistinnen, die in der Öffentlichkeit politische Forderungen und kritische Fragen nach der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft stellten. Ihr Verlust und ihr gemeinsames Auftreten verliehen ihnen eine moralische Legitimität, die sie öffentlich immer wieder nutzten. 2002 kehrte Hatidža als eine der ersten nach Srebrenica zurück und lebte unter Menschen, die mitverantwortlich waren für den Genozid an Bosniaken, für die Ermordung ihrer Familienangehörigen. Menschen, die Busse gefahren sind, mit denen Männer transportiert wurden, die Erschießungsstellen abgesichert haben, die geschossen haben.
Als Überlebende erinnerte Hatidža mit ihrem Zeugnis an ihre verschwundenen Söhne und ihren Mann. Indem sie ihre ganze Familie ins Bild setzte, machte sie deutlich, was Völkermord für die Überlebenden bedeutet. Dass sie allein bleiben. Ihr Bild steht für den bemerkenswerten Kampf einer Mutter, Überlebenden und Aktivistin um Wahrheit und Gerechtigkeit. Ein Kampf gegen die anhaltende Gewalt der Völkermordleugnung. Und eines Kampfes um das Schreiben ihrer eigenen Geschichte, ihrer Geschichte des Genozids. Ihr Bild verschränkt daher verschiedene Kommunikationsebenen: Es verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart, erinnert an ihre Angehörigen, daran, dass sie Teil einer Familie, einer Gemeinschaft waren, erinnert an ihre Kinder und ihren Mann. Diese lokale und persönliche Ebene, die zugleich an universelle Werte anknüpft, wird in eine internationale Tradition des visuellen Protests eingebettet und so aus ihrer lokalen Geschichte in einen globalen Kontext überführt. Mit ihrem Selbstporträt setzt Hatidža ein weltweit erkennbares Zeichen gegen das Vergessen, gegen Ungerechtigkeit, gegen Verleugnung, gegen Völkermord, gegen Krieg. Die Fotos ihrer Familie zeigen sie glücklich, aus einer besseren Zeit. Sie erzeugen bei Betrachtenden ein besonderes Mitgefühl, weil wir Menschen sehen, die vor dem Völkermord ein anderes, unser Leben gelebt haben. Sie erzeugen auch eine Solidarität mit der leidenden Mutter – eine „kollektive Mutterschaft“7, die im visuellen Repertoire von Pietà bis Käthe Kollwitz immer wieder neu überschrieben wird und politisches Handeln aktiviert. Gleichzeitig erinnert uns der Kontrast zwischen den Bildern der Familie und dem Bild der einsamen Hatidža im Hintergrund an den traumatischen Bruch ihrer Mutterschaft. Den Bruch, der sie in die Öffentlichkeit zwang und zum Widerstand führte.
Ihr Zeugnis macht deutlich, dass sie die Gewalt und das ethnonationalistische politische Projekt der serbischen militärischen und politischen Führung ablehnt, das sie von ihrem Leben vor dem Völkermord abgeschnitten hat. Es nahm ihr ihre Familie, ihr Land, ihren Garten, ihr Haus, ihre Fotoalben und die Schulhefte ihrer Kinder. Hatidžas Bild zeigt, dass sie diese Gewalt nicht akzeptiert und nicht vergisst. Sie weigert sich zu schweigen. Sie weigert sich, eine gewalttätige Kriegsordnung zu akzeptieren. Diese Verweigerung erinnert uns daran, dass wir es nicht hinnehmen dürfen, dass Soldaten in wenigen Tagen mehr als 8.000 Menschen ermorden, nur weil sie einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe angehören. Es ist nicht hinnehmbar, dass ihre sterblichen Überreste ausgegraben und verscharrt werden, so dass ihre Angehörigen jahrzehntelang von Massengrab zu Massengrab pilgern, in der Hoffnung, Spuren zu finden, um ihre Väter und Söhne und Ehemänner beerdigen zu können. Es ist nicht hinnehmbar, darüber zu schweigen.
Hatidžas Bild verdeutlicht somit, welche Bedeutung der fotografierten Person zukommt, um die Fotografie selbst zu analysieren. Der Fotograf Emrić bleibt im Hintergrund. Es ist Hatidžas Handeln, das die Bedeutung der Fotografie bestimmt. Es ist ihr Leben, das uns gezeigt wird. Es ist ihre Geschichte, die Hatidža uns präsentiert, mit der Kraft einer Mutter, die sich gegen Unrecht auflehnt.
Referenzen
- Siehe dazu auch Daniel Mebarek, Holding Onto You: Photographs as Protest Signs, 12.04.2021, in: Theory & Practice, https://www.magnumphotos.com/theory-and-practice/holding-onto-you-photographs-protest-signs/ (abgerufen am 18.06.2024).
- Ariella Aīsha Azoulay, Civil Imagination. A Political Ontology of Photography, London/New York 2012, S. 178–179.
- Der Srebrenica Report des niederländischen Institute for war, holocaust, and genocide studies beschreibt und analysiert den Fall von Srebrenica und gibt zahlreiche Quellen wieder. Siehe http://publications.niod.knaw.nl/publications/srebrenicareportniod_en.pdf (abgerufen am 24.6.2024).
- Hatidžino kazivanje Bernisu Ademoviću, in: Esnefa Smajlović-Muhić, Majka Hatidža, Tuzla 2020, S. 69–70.
- Susan Sontag, On Photography, London 2008, S. 155–156.
- Urteil gegen Radislav Krstić, in: Krstić Judgement, Punkt 128, https://www.icty.org/x/cases/krstic/acjug/en/ (abgerufen am 20.6.2024).
- Ulises Gorini, La Rebelión de Las Madres. Historia de las Madres de Plaza de Mayo, Buenos Aires 2006, S. 387.