Die auf diesem Foto dargestellte Frau trägt gestreifte Häftlingskleidung mit der Nummer 50446 und schaut ernsten Blickes in die Kamera. Die Beschriftung auf dem unteren Teil des Fotos verrät ihren Namen: Neus Català.
Català, eine katalanische Krankenschwester und Kommunistin, floh wie viele andere Republikaner:innen nach der Niederlage im spanischen Bürgerkrieg gegen die Truppen von General Francisco Franco nach Frankreich. In Südfrankreich schloss sie sich während der deutschen Besatzung der kommunistischen Widerstandsorganisation Front National an und schmuggelte als Kurierin Waffen und Dokumente. Im November 1942 wurde sie von der Gestapo verhaftet und anschließend in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, von wo aus sie im April 1944 in das Außenlager Holleischen überstellt wurde.1
Einige Monate nach der Befreiung des Lagers Holleischen im Mai 1945 ließ sich Català, die nicht in ihre nun von Franco diktatorisch regierte Heimat zurückkehren konnte, in einem Fotoatelier in Sarlat-la-Canéda im französischen Périgord in ihrer Häftlingskleidung fotografieren. Dieses Foto möchte ich hier in den Blick nehmen und das Motiv sowie die Umstände seiner Entstehung analysieren und einordnen.
In den Konzentrationslagern war den Häftlingen das Fotografieren verboten und auch dem Bewachungspersonal war das Fotografieren im Lager untersagt. Einzig dem Erkennungsdienst sowie den Bauleitungen der Lager war das Fotografieren für bestimmte Zwecke gestattet. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, in denen es Häftlingen gelang, unentdeckt Aufnahmen zu machen und diese aus dem Lager zu schmuggeln2, war ihnen die bildliche Dokumentation und das (Selbst-)Portraitieren nur in der Form heimlicher Zeichnungen möglich. Erst mit der Befreiung der Lager fotografierten Angehörige alliierter Truppen, was sie vorfanden, um das Ausmaß der NS-Verbrechen bildlich einzufangen.3 In diesem Kontext wurden unter anderem Gruppenfotos Überlebender noch in ihrer Häftlingskleidung inszeniert.4 Dass Català einige Wochen oder Monate nach der Befreiung des KZ Holleischen zurück in Frankreich in ihrer Häftlingskleidung zu einem Fotografen ging, ist eher ungewöhnlich, obwohl auch von einigen anderen KZ-Überlebenden solche Bilder überliefert sind.5
Häftlingskleidung als Symbol des Widerstands
Warum also suchte Català im Herbst 1945 ein Fotoatelier auf und ließ sich in ihrer Häftlingskleidung aus dem KZ-Außenlager Holleischen ablichten? Warum reproduzierte sie ihre Häftlingsexistenz, anstatt sich etwa ihre im Konzentrationslager von der SS durch das Scheren der Haare sowie die uniforme und unförmige Kleidung genommene Weiblichkeit wiederanzueignen? Insbesondere überlebende Frauen wollten die Haftkleidung nach der Befreiung oft schnell loswerden, die „gestreifte oder mittels eines weißen Kreuzes markierte Kleidung wurde im Wald verscharrt, sobald man anderes zur Hand hatte“.6 Die Häftlingskleidung, zunächst Symbol der Unterdrückung und Entindividualisierung der in die Konzentrationslager verschleppten Menschen, änderte mit der Befreiung jedoch auch ihre Bedeutung. Sie konnte zu einem Symbol des Überlebens und zum Kennzeichen einer neu erlangten Identität werden. Stephan Matyus schreibt über Fotografien, die Francisco Boix, ein ebenfalls katalanischer Häftling des KZ Mauthausen, direkt nach der Befreiung von seinen Kameraden in ihrer Häftlingskleidung machte: „Obgleich sich schon einige Überlebende zivil eingekleidet hatten, griffen sie für die Fotoserie noch einmal auf die gestreifte Häftlingsjacke zurück. […] Die Kamera […] gab nun in den Händen Boix‘ den befreiten Häftlingen ein neues Selbstverständnis, das Zeugnis darüber ablegen sollte, dass sie zwar Häftlinge des KZs waren, ihr Widerstandsgeist aber nicht gebrochen war.“7
Català eignete sich also ihre Häftlingskleidung als Symbol des Widerstands und des Überlebens neu an und schaut ernst und bestimmt in die Kamera. Dabei war es keine Selbstverständlichkeit, dass Català in eben dieser Kleidung nach Frankreich zurückkehrte. Der Historikerin Elisenda Belenguer Mercadé berichtete sie: „Im März gaben sie uns das Sommerkleid, das so schlecht war, dass es wie ein durchsichtiger Morgenmantel aussah, aber in diesem Jahr, als sie uns befreiten, hatten sie es uns immer noch nicht gegeben. Deshalb trug ich das Winterkleid. Wir behielten es, weil wir darin zurückkehren wollten, obwohl die Alliierten uns andere Kleider brachten!“8
Die Kleidung wurde von vielen befreiten KZ-Insass:innen also bereits direkt nach der Befreiung als bedeutendes Zeugnis des Leidens und Widerstands betrachtet, das wiederum die eigene Rolle als Überlebende und Zeugin unterstrich. Insbesondere die ehemaligen politischen Häftlinge eigneten sich die häufig blau-weiß-gestreifte Häftlingskleidung ebenso stolz nach außen hin an, wie den roten Winkel als Markierung ihrer Haftgruppe sowie die eigene Häftlingsnummer, die paradoxerweise zum Symbol individueller Identität wurde. Die Häftlingskleidung wurde dabei seit 1945 bei Gedenkfeiern und politischen Demonstrationen von ehemaligen Häftlingen getragen, um eine besondere moralische Autorität zum Ausdruck zu bringen.9 Bärbel Schmidt macht drei Gründe für diese Praxis aus: Erstens das pädagogische Ziel der Überlebenden zu erinnern und zu mahnen, zweitens das gemeinsame Gedenken an die Toten und drittens das Sichtbarmachen der Zugehörigkeit zur Häftlingsgemeinschaft.10
Ich möchte hier nun auch auf den zweiten von Schmidt genannten Aspekt blicken: Neus Catalàs Gesichtsausdruck auf dieser Fotografie – in der gestreiften Kleidung mit dem aufgenähten roten Winkel sowie ihrer Häftlingsnummer aus dem KZ Holleischen – ist nicht nur ernst und bestimmt, er scheint zugleich nach innen gerichtet und von Trauer und Sorge geprägt zu sein. Neben der Trauer um die getöteten Kameradinnen, die viele Überlebende stetig begleitete, wird Català in Sorge um ihren Mann Albert Roger gewesen sein. Erst nach der Aufnahme dieses Fotos erfuhr sie, dass er im KZ Bergen-Belsen kurz vor dessen Befreiung ums Leben kam.11
Eigensinnige „Ikone des Überlebens“
Ist diese Fotografie, bei der Català zunächst das abgebildete Objekt und nicht das handelnde Subjekt zu sein scheint, nun ein Selbstzeugnis? Diese Frage möchte ich eindeutig bejahen. Català entschied sich, für dieses Abbild in ihrer Häftlingskleidung zu einem Fotografen zu gehen, von dem sie sich selbstbestimmt als ehemaliger Häftling, Überlebende und Zeugin festhalten lässt. Sie erlangte so die Kontrolle über das eigene Bild zurück, das ihr als Verfolgte eines diktatorischen Regimes genommen wurde und setzte ein Zeichen antifaschistischen Widerstands im für sie andauernden politischen Exil. Dabei unterlief sie die Erwartungen ihres eigenen familiären Umfelds, nach der Rückkehr aus der Deportation das Erlebte möglichst rasch zu vergessen, sondern hielt eigensinnig die Erinnerung an das Lager fest. Das Foto ist also in den Worten Cornelia Brinks zugleich „Abdruck der ‚Wirklichkeit‘ und deren Interpretation“12 durch Català. Dabei stellt das Bild eine strikte Chronologie von „im Lager“ und „nach der Befreiung“ in Frage. Kurz nach der Aufnahme dieses Bildes verbrannte ihre Schwägerin die von Català aus dem Konzentrationslager mitgebrachte Kleidung, zusammen mit Briefen, die ihr Mann Albert ihr während der Lagerhaft geschickt hatte.
Seine Wirkung verfehlte dieses Bild jedenfalls nicht, bereits der Fotograf, der das Bild 1945 aufnahm, weigerte sich, von Català eine Bezahlung anzunehmen. Bis heute ist dieses Foto das am meisten publizierte Bild von Neus Català (1915–2019), die durch ihr unermüdliches politisches Engagement in Frankreich und Spanien einen hohen Grad an Bekanntheit erlangte. Insofern wurde das Bild zu einer eigenmächtig von einer Überlebenden produzierten „Ikone des Überlebens“, die sich von den „Ikonen der Vernichtung“, den Bildern, die alliierte Fotograf:innen von den befreiten oder in den Lagern ermordeten KZ-Häftlingen aufnahmen, durch ihre Selbstbestimmtheit unterscheidet.
Wenn wir Fotografien als mit Intention verbundene Inszenierungen des Selbst, der fotografierenden oder der fotografierten Person, betrachten, sind sie als Selbstzeugnisse auch und insbesondere im Kontext der Verfolgung unbedingt ernst zu nehmen, um den Spuren der mit ihnen verbunden Absichten nachzugehen.
Referenzen
- Rund 200 Spanierinnen wurden ins KZ Ravensbrück und von dort häufig in verschiedene Außenlager deportiert. Sie waren größtenteils vor dem Franco-Regime geflohen und hatten schon mehrere Jahre in Frankreich gelebt, weswegen die meisten von ihnen als Französinnen registriert wurden. Zur Deportation von Català und anderen in deutschen KZ inhaftierten Frauen aus Spanien vgl. Neus Català, In Ravensbrück ging meine Jugend zu Ende. Vierzehn spanische Frauen berichten über ihre Deportation in deutsche Konzentrationslager, Berlin 1994.
- Ein Beispiel sind die heimlich aufgenommenen Fotografien von polnischen Frauen im KZ Ravensbrück, die Opfer medizinischer Experimente wurden. Vgl. Andrea Genest, Fotografien als Zeugen. Häftlingsfotografien aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, in: Hildegard Frübis u. a. (Hrsg.), Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis, Wien 2019, S. 85–111.
- Zur Entstehung und Verbreitung dieser Bilder vgl. Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998.
- Vgl. z.B. ein Gruppenbild von befreiten Häftlingen, das im Außenlager Holleischen des KZ Flossenbürg aufgenommen wurde, https://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/de/geschichte/aussenlager/holleischen, abgerufen am 16.06.2023. Wer die Aufnahme gemacht hat, ist nicht bekannt.
- Vgl. bspw. David Rojkowski, Von Umbrüchen und Wendepunkten. Über das Umdeuten und Aneignen der NS-Lagersymbolik durch KZ Häftlinge, in: Axel Drecoll, Maren Jung-Diestelmeier (Hrsg.), Bruchstücke ‘45. Von NS-Gewalt, Befreiungen und Umbrüchen im Jahr 1945, Berlin 2021, S. 153–161. David Rojkowski setzt sich mit einem ähnlichen Portraitfoto des französischen KZ-Überlebenden Bernard Dutasta auseinander.
- Insa Eschebach, Katharina Zeiher, Ravensbrück 1945, Der lange Weg zurück ins Leben. Autobiografische Zeugnisse von Überlebenden des Frauen-Konzentrationslagers, in: Insa Eschebach, Gabriele Hammermann, Thomas Rahe (Hrsg.), Repatriierung in Europa 1945, Berlin 2016, S. 72.
- Stephan Matyus, Die Befreiung von Mauthausen, die fotografische Perspektive eines Häftlings: Francisco Boix, in: Frübis, Fotografien aus den Lagern, S. 167.
- Zeugnis von Neus Català auf der Grundlage der Interviews, die Elisenda Belenguer Mercadé für die Biografie „Neus Català, memòria i lluita“ (Barcelona 2006) führte. Ich danke Elisenda Belenguer Mercadé ebenso wie Carme Martí und Margarita Català für verschiedene Informationen zu diesem Foto und seinem Entstehungskontext.
- Vgl. Alexander Prenninger, Symbole und Rituale der Befreiungsfeiern in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, in: Ulrike Dittrich, Sigrid Jacobeit (Hrsg.), KZ-Souvenirs. Erinnerungsobjekte der Alltagskultur im Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen, Potsdam 2005, S. 40–54; sowie Bärbel Schmidt, Geschichte und Symbolik der gestreiften Häftlingskleidung, phil. Diss. Univ. Oldenburg 2000, S. 272 ff.
- Schmidt, Geschichte und Symbolik, S. 273.
- Diese und weitere Informationen zum Entstehungskontext des Fotos stammen aus einem E‑Mail-Austausch, den die Autorin im Frühsommer 2023 mit Margarita Català, Tochter von Neus Català, führte.
- Brink, Ikonen der Vernichtung, S. 10.