„Am 20. Oktober 1942 kam Trajko Latifović gemeinsam mit zwei Agenten [der serbischen Spezialpolizei, Zusatz d. Verf.] und einem Wachmann [der lokalen Polizeiwache, Zusatz d. Verf.] in mein Haus und holten meinen Mann, Ćazim Ašimović, zusammen mit meinem Sohn Jakup heraus und brachten sie in das Gebäude der Spezialpolizei. Damals rettete ich meinen Sohn Ašim, indem ich ihn unter Kissen versteckte, sodass sie ihn nicht sehen konnten.“1
Mit diesen Worten erinnerte sich Anifa Ašimović, serbische muslimische Romni aus Niš, am 14. Februar 1945 vor der jugoslawischen Kriegsverbrecherkommission (Komisija za utvrđivanje zločina okupatora i njihova pomagača) an die Ereignisse an besagtem Tag im Oktober, die ihr Leben und das ihrer Familie für immer verändern würden. Ihr Mann Ćazim (55 Jahre) und ihr ältester Sohn Jakup (25 Jahre), beide von Beruf Musiker, wurden nach der Verhaftung im eigenen Haus in das Gebäude der Nišer Spezialpolizei, von dort in das Nišer Konzentrationslager „Crveni Krst“ und schließlich ins lokale Gefängnis gebracht.
Aufschlussreich ist an dieser Stelle auch die Erwähnung des Rom Trajko Latifović, der bei der Verhaftungsaktion anwesend war und als Ansprechpartner der Besatzungsbehörden fungierte. Nachdem Anifas Mann und Sohn im Gefängnis fast vier Monate gefangen gehalten worden waren, wurden sie zusammen mit Dutzenden anderen Roma am 24. Februar 1943 im Zuge einer sog. „Sühneaktion“ auf einem Hügel außerhalb der Stadt erschossen.
Historischer Kontext
Dieser Verhaftung vorausgegangen waren mehrere Gesetze, die auf die Diskriminierung von Rom:nja sowie Jüdinnen und Juden und ihren Ausschluss aus der serbischen Mehrheitsgesellschaft abzielten. Unmittelbar nach der Kapitulation Jugoslawiens und der Etablierung einer deutschen Militärverwaltung in Serbien im April 1941 wurden von der deutschen Militäradministration erste Gesetze verabschiedet, die Jüdinnen und Juden zur Registrierung verpflichteten und diskriminierten. Schon Ende Mai 1941 wurden dann erstmals auch Gesetze verabschiedet, die sich sowohl auf Jüdinnen und Juden als auch auf Rom:nja bezogen und diesen jegliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und jede Arbeit in staatlichen Institutionen untersagte.
In den folgenden Monaten wurden die Gesetze dahingehend geändert, dass der Kategorisierung statt rassischer nun soziographische Kriterien zu Grunde liegen sollten, also, dass solche Roma, die „ehrliche Arbeit“ haben und ein „anständiges Leben“ führen, sowie ihre Sesshaftigkeit seit mindestens 1850 nachweisen konnten, von Diskriminierung und Verfolgung ausgenommen seien.2 Auch sollten muslimische Rom:nja in Serbien und dem vom Unabhängigen Staat Kroatien einverleibten Bosnien und Herzegowina nicht als „Zigeuner“ sondern als „Arier“ „kroatischer Muttersprache“ designiert und entsprechend behandelt werden.3
All diese Gesetzesanpassungen stellten jedoch keine Überlebensgarantie dar, weder für „sesshafte“ orthodoxe oder katholische noch für muslimische Rom:nja, die beispielsweise im Fall der Nišer Rom:nja sogar zusätzlich eine lange Geschichte der Sesshaftigkeit hätten nachweisen können. Als Reaktion auf den im Sommer 1941 aufflammenden Partisanenaufstand wurden im Rahmen von sogenannten „Sühneaktionen“ in Belgrad, Šabac, Kragujevac, Leskovac, Niš und vielen anderen Orten tausende Roma als Geiseln verhaftet und später ermordet.
In den Kontext solcher „Geiselerschießungen“ ist auch die Verhaftung des Mannes und des Sohnes von Anifa sowie hunderter anderer Roma aus Niš und den umgebenden Dörfern einzuordnen. Nachdem viele der inhaftierten Roma aus unterschiedlichen, teilweise nicht genauer nachvollziehbaren Gründen entlassen worden waren – manche wurden als „arbeitsfähig“ aussortiert und zur Zwangsarbeit in den nahen Kupferminen in Bor eingesetzt oder in Zwangsarbeiterlager ins Reich deportiert, andere möglicherweise auf Drängen muslimischer Vertreter entlassen – wurden am 24. Februar 1943 etwa 90 Roma auf dem Bubanj in einer sogenannten „Vergeltungsaktion“ von deutschen Wehrmachtssoldaten erschossen.
Anifas Aussage als hybrides Selbstzeugnis
Anifa machte ihre Aussage vermutlich in erster Linie, um sich bei den neuen jugoslawischen Behörden um eine Entschädigung zu bemühen und um die Erschießung ihres Mannes Ćazim und ihres Sohnes Jakup zu dokumentieren. Dies wird im zweiten Teil ihrer Aussage deutlich, in welchem sie angibt, für ihren Mann 200.000 Dinar und für ihren Sohn 500.000 Dinar4 Entschädigung zu fordern, da letzterer zwei Kinder, einen siebenjährigen Sohn (Ćazim) und eine fünfjährige Tochter (Selima) hinterlassen habe. Außerdem erzählt sie, dass ihre Enkel:innen nicht nur ihren Vater verloren hätten, sondern auch ihre Mutter. Diese hatte wie viele Romnja in Niš während der Besatzung in den Häusern der deutschen Besatzer unbezahlte Arbeit verrichten müssen und war nach Ende des Krieges ohne jede Spur verschwunden.
Neben der großen Verzweiflung über die eigene prekäre Nachkriegssituation sowie der tiefen Trauer über ermordete Angehörige verweist Anifas Aussage vor allem auf ihre eigenen Handlungsspielräume. Sowohl im Augenblick der Verhaftungsaktion, während der sie geistesgegenwärtig ihren Sohn versteckte, als auch in ihrem Bemühen um Entschädigung, nutze sie die ihr offenstehenden Möglichkeiten zu ihrem Vorteil. In den Geschichts- und Sozialwissenschaften hat sich dafür der Begriff der agency etabliert. Ins Deutsche übersetzt als „Handlungsmacht“ bezeichnet der Begriff die Fähigkeit einer:s Akteur:in innerhalb einer Situation „mit einer gewissen Offenheit auf sich selbst und andere Einfluss zu nehmen“.5
Solche Momente der Ermächtigung von Betroffenen von Verfolgung und Diskriminierung werden vor allem aus Quellen ersichtlich, die sich unter die Quellenart der Selbstzeugnisse einordnen lassen. In einem Selbstzeugnis tritt der oder die Verfasser:in „selbst handelnd oder leidend in Erscheinung oder nimmt darin explizit auf sich selbst Bezug.“ Selbstzeugnisse sind also „selbst verfasst, in der Regel auch selbst geschrieben (…) sowie aus eigenem Antrieb, also ‚von sich aus‘, ‚von selbst‘ entstanden.“6 Im Fall der vorliegenden Quelle handelt es sich um ein solches Selbstzeugnis, jedoch eines hybrider Natur.7 Hybrid, weil der Rahmen, innerhalb dessen Anifa über sich selbst Zeugnis ablegt, ein administrativer und von staatlicher Behörde vorgegebener ist.
Für die Quellenanalyse bedeutet dies, dass der soziale Rahmen der Aussage – also wo, in welcher Form und vor wem sie gemacht wurde – mit beachtet werden muss. Bei der Beurteilung des Erkenntniswertes der Quelle über die Frage von agency hinaus, ist vor allem der Faktor der sozialen Erwünschtheit zu berücksichtigen, nach dem die befragte Person dazu tendiert, „nicht die für sie tatsächlich zutreffende Antwort zu geben, sondern diejenige, von der sie erwartet, dass sie sozial gebilligt oder erwünscht ist“.8 Dies kann, wenn auch nicht unbedingt auf den Wahrheitsgehalt der Aussage, so zumindest auf die Auswahl dessen, was erzählt, und dessen, was verschwiegen wird, Einfluss nehmen. Eine Einschränkung, die uns aber auch in nicht hybriden Selbstzeugnissen wie Briefen oder Tagebüchern begegnet.
Außerdem gilt es zu beachten, dass die meisten der befragten Rom:nja Analphabet:innen waren, sodass die Aussagen vermutlich diktiert und von einem Kommissionsmitglied abgetippt wurden. Die Analyse des Quellenkorpus ergab zudem, dass viele der Aussagen nach ähnlichem Muster verfasst sind, sodass davon ausgegangen werden muss, dass die Kommission auf Grundlage getätigter Aussagen zu bspw. Tathergängen Vorlagen erstellte, die dann, möglicherweise sogar in Sammelbefragungen, von den Betroffenen unterzeichnet oder mit einem Fingerabdruck abgesegnet wurden.
Die Arbeit mit solchen hybriden Selbstzeugnissen wird vor allem dann unabdingbar, wenn für den Untersuchungsgegenstand – den Völkermord an den Rom:nja in Serbien und die Situation serbischer Rom:nja unter deutscher Besatzung – kaum schriftliche Selbstzeugnisse vorliegen. Dies gilt übrigens für die gesamte Region des ehemaligen Jugoslawiens. Diese Art von Quellen und der damit mögliche Einblick in individuelle Geschichten der Verfolgung sowie Handlungsspielräume ist unverzichtbar, wenn man im Sinne einer „integrierten Geschichte“ nach Saul Friedländer alternative Perspektiven und Erzählungen zu einer ausschließlich auf Täterquellen gestützten Historiographie aufzeigen möchte.9
Quellenlage und Forschungsstand zum Völkermord an den Rom:nja in Jugoslawien
Um die Authentizität einzelner Aussagen zur Ereignisgeschichte zu überprüfen, ist es hilfreich, das Berichtete mit anderen Quellen abzugleichen. Allerdings ist dies im vorliegenden Fall oft kaum möglich. Das liegt zum einen daran, dass die Geschichte des Völkermords an den Rom:nja in Serbien bisher nur wenig erforscht wurde und es daher gut möglich ist, dass manche Quellenbestände noch nicht entdeckt und bearbeitet sind. Erst 2014 legte Milovan Pisarri die erste Monografie zum Thema vor.10
Zum anderen zerstörten die deutschen Besatzer bei ihrem Rückzug viele der administrativen Besatzungsdokumente, die eine mehr oder weniger lückenlose Rekonstruktion der Chronologie der Verfolgung aus der Täterperspektive ermöglichen würden. Andere Faktoren, die dazu beigetragen haben, dass die Überlieferung oft äußerst fragmentiert ist, sind der Fokus der jugoslawischen Geschichtsschreibung auf das Heldennarrativ des „antifaschistischen Kampfes“. Dies führte in der Praxis zu einer selektiven Gewichtung und Bewahrung von Quellenbeständen. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch die jahrzehntelange Unterfinanzierung lokaler Archive in Serbien zu nennen.
Umso wichtiger ist es, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welchen Wert die Quellenbestände haben, die aktuell bekannt und zugänglich sind. Die qualitative Analyse des Korpus, aus dem die hier vorgestellte Quelle entnommen ist, liefert Hinweise auf den Alltag der Nišer Roma unter deutscher Besatzung, auf Überlebensstrategien, Zwangsarbeit und unbezahlte Arbeit für die Besatzer:innen. Darüber hinaus finden sich in den Formularen auch wichtige demografische Informationen, wie bspw. zu Alter, Geschlecht und Berufen der Ermordeten und der Überlebenden oder zu Wohnorten der Befragten.
Zu Informationen über die soziale Struktur in den Roma-vierteln zählt auch die Erwähnung von kmetovi, Viertel-Ältesten, wie der in der Quelle erwähnte Trajko Latifović, die eine wichtige Funktion in der Vermittlung zwischen lokaler Gemeinschaft und Besatzungsbehörden einnahmen. Nicht zuletzt können anhand der quantitativen Analyse der Quellenauswahl in Bezug auf die Angaben zu „Nationalität“ (narodnost) auch Aussagen zu Selbst- und Fremdbezeichnungen der Minderheit in der direkten Nachkriegszeit gemacht werden.
Abschließende Überlegungen
Zusammenfassend kann über die Quellen der jugoslawischen Kriegsverbrecherkommission gesagt werden, dass sie unter Beachtung grundlegender Fragen der Quellenkritik durchaus geeignet sind, Leerstellen in der lokalen Geschichte der Verfolgung zu füllen, die Perspektive der Verfolgten stark zu machen und ihre Handlungsmacht aufzuzeigen, sowie mit mikrogeschichtlichen Methoden einen Beitrag zur Erforschung größerer Verbrechenskontexte des Völkermords an den jugoslawischen Rom:nja zu leisten.
Dass Anifas Sohn Ašim den Völkermord und die Zeit der Besatzung überlebte, wissen wir übrigens aus der Analyse weiterer Aussagen vor der Kriegsverbrecherkommission: Zwei Wochen nach der Aussage seiner Mutter gab der 22-jährige Ašim die Geschichte der Deportation und Ermordung seines Vaters und Bruders aber auch die seiner eigenen Rettung zu Protokoll.
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Referenzen
[1] Anzeige von Anifa Ašimović, Arhiv Jugoslavije (AJ), 110−526−436.
[2] Verordnung Nr. 2051−2142−41, 11.07.1941, veröffentlicht in: Milovan Pisarri, The Suffering of the Roma in Serbia during the Holocaust, Belgrad 2014, S. 50.
[3] Promemoria Nr. 2208–41 aus Zagreb an die deutsche Militärverwaltung in Serbien über die Sonderbehandlung der „Weißen Zigeuner“, 19. Juni 1941, veröffentlicht in: Karola Fings, Cordula Lissner, Frank Sparing, „… einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst“. Die Verfolgung der Roma im faschistisch besetzten Jugoslawien 1941 – 1945, Köln 1991, S. 116.
[4] Der Umrechnungskurs von Jugoslawischen Dinar zu Dollar lag 1940 bei ungefähr 50 Dinar:1 Dollar, sodass es sich bei den Forderungen um eine Summe von umgerechnet etwa 4.000 bzw. 10.000 damalige Dollar handelt.
[5] Felix Stalder, Digitalität und Handlungsfähigkeit. Was bedeutet “Agency” im Zeitalter des Netzes?, in: Berliner Gazette, 21.05.2018, https://berlinergazette.de/de/agency-im-digitalen-zeitalter/, abgerufen am 18.10.2023.
[6] Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462–471.
[7] Gruner und Kaplan führen den Begriff der “hybriden Quellen” ein, um Bittschriften von Jüdinnen und Juden während der Zeit des Nationalsozialismus zu kategorisieren. Sie sprechen sich jedoch dagegen aus, solche Quellen als Ego-Dokumente zu bezeichnen, da so der hybride Charakter der Bittschriften und die sie bestimmenden Vorschriften und Rahmenbedingungen ausgeblendet würde. Für den Anstoß zur Zusammenführung der beiden Kategorien zur Quellenart der “hybriden Selbstzeugnisse” danke ich Verena Meier. Siehe: Thomas Kaplan Pegelow, Wolf Gruner, Introduction, in: Diess. (Hrsg.) Resisting Persecution. Jews and Their Petitions during the Holocaust, Contemporary European History 24 (2020), New York, Oxford, S. 18.
[8] Rüdiger Hossiep, Soziale Erwünschtheit, in: Dorsch Lexikon der Psychologie: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/soziale-erwuenschtheit, abgerufen am 06.11.2023.
[9] Saul Friedländer, Eine integrierte Geschichte des Holocaust, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 03.01.2022, https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/dossier-nationalsozialismus/39637/eine-integrierte-geschichte-des-holocaust/, abgerufen am 18.04.2023.
[10] Pisarri, The Suffering.