Am 26. Mai 1937 wurde die aus einer jüdischen Familie stammende Sozialarbeitsbegründerin, Frauenrechtlerin und Wissenschaftlerin Alice Salomon (1872–1948) während eines Gestapo-Verhörs angewiesen, das Deutsche Reich innerhalb von drei Wochen zu verlassen. Über dieses Verhör verfasste Salomon – vier Tage nachdem sie zur erzwungenen Emigration aufgebrochen und ihren ersten Zwischenhalt London erreicht hatte – ein Memorandum. Diese Notizen sind nach derzeitigem Kenntnisstand das einzige erhaltene Zeugnis über das Verhör, ein Protokoll der Gestapo ist – soweit wir wissen – nicht überliefert.1 Auch Salomons Nachlass ist nicht erhalten. Nur wenige Briefe sind als Selbstzeugnisse über ihr Exil, das sie bis zu ihrem Tod 1948 in New York verbrachte, in verschiedenen Archiven überliefert. Zudem schrieb sie in ihrer ebenfalls im Exil verfassten Autobiographie “Charakter ist Schicksal” in nur wenigen Absätzen über diese Zeit.2 Das Memorandum gehört also zu den seltenen Dokumenten, in denen sich Salomon dazu äußert, wie sie ihre Vertreibung erlebt hat.3
Das 12-seitige Typoskript war ausschließlich – so hat es Salomon im Dokumentkopf vermerkt – für ihren persönlichen Gebrauch bestimmt und in englischer Sprache verfasst. Sowohl die Form des Dokuments als auch die gewählte Sprache bilden auf den ersten Blick einen Widerspruch zu seinem postulierten Verwendungszweck. Daher lässt sich fragen, welche Bedeutung es hat, dass Salomon ihre persönlichen Erlebnisse nicht in ihrer ersten Sprache – deutsch – niedergeschrieben hat und wie darüber hinaus die protokollartige Form des Memorandums gedeutet werden kann.
Die Entscheidung, das Dokument auf Englisch zu verfassen, könnte darauf hinweisen, dass Salomon bereits damals mit dem Gedanken spielte, ihre Erlebnisse zu einem späteren Zeitpunkt für ein englischsprachiges Publikum zu veröffentlichen.4 So zitierte sie in ihrer erst rund 35 Jahre nach ihrem Tod publizierten Autobiographie5 ausgiebig aus dem protokollierten Verhör.6 Auch dessen detailgenaue Niederschrift, die uns den Eindruck eines Gedächtnisprotokolls vermittelt, weist über den persönlichen Gebrauch des Dokuments hinaus und unterstützt die oben genannte Hypothese.
Darüber hinaus kann die Protokollform als ein Versuch von Salomon gedeutet werden, ihre „eigene Version“ des Verhörs und somit auch ihrer Vertreibungsgeschichte schriftlich festzuhalten. Sie protokollierte, wie die Gestapo ihre Aussagen manipulierte: „What was the general feeling about Germany, kind or unkind? The attitude was not favourable, but no less so than during the years 1923 and 1924, when I was in U.S.A. (He notes in the report: – , The attitude is unkind.’ )“7 Die detailreiche Dokumentation kann folglich als ein stilistisches Mittel begriffen werden, mit dem sie ihrer Erfahrung einen politischen Ausdruck verleihen wollte. So schrieb sie rückblickend in ihrer Autobiographie: „Es wäre nicht der Rede wert, mein Verhör durch die Gestapo zu erwähnen; ich meine aber, daß die Nichtigkeit der Angelegenheit, auf die sie sich konzentrierten, die Dummheit ihrer Beschuldigungen und Einschätzungen einen Beitrag zum widerwärtigen Bild des Totalitarismus leisten könnten.“8 Diese biographischen Reflexionen unterstützen die Vermutung, dass Salomon sich der Verhörsituation – stellvertretend für ihre Vertreibungsgeschichte – sowohl persönlich bemächtigt hat als auch eine eigene Deutung zu ihrer Vertreibung festhalten wollte, die den antisemitischen Zuschreibungen der Nazis gegenüber widerständig war. So unterstreicht Salomon im Dokument zum Beispiel ihre seit Jahrhunderten verbriefte Zugehörigkeit zu Deutschland: „,I belong to an old family whose members have been in Germany for‘ 225 [sic] years. One of my ancestors got a safe-conduct by Frederic the, Great [sic]. I would like to show it to you. you [sic] will never have seen such a document before.’ (He examines the document with interest). , I was awarded the great silver medal for special services for the State, which as far as I know, no other woman in Prussia possesses.’“9
Darüber hinaus geht sie auf ihre lebenslange, enge Verbundenheit zum Christentum ein, die sich 1914 in ihrer Konversion manifestierte,10 und betont: „[u]ntil the very end I was not aware that any charge would be made against me as I knew that I had not acted incorrectly and had a clear conscience.“11
Trotz dieser selbstsicheren Positionierung verweisen sowohl der Gebrauch der englischen Sprache als auch der Protokollcharakter auf die existentiell bedrohliche Dimension der Erfahrung. Dass sie das Dokument nicht in ihrer ersten Sprache verfasste und ihrem emotionalen Erleben ob der Konzentration auf die detaillierte Beschreibung des Verhörs keinen Raum gab, kann als Strategie gedeutet werden, sich innerlich vom Erlebten zu distanzieren. Die Form des englischsprachigen Dokuments erweckt den Eindruck, dass sich Salomon – bewusst oder unbewusst – in die Position der Beobachterin begeben hat. Dies steht nicht im Widerspruch zur Deutung der politischen Aneignung ihrer Vertreibungsgeschichte. Im Gegenteil, folgen wir der These der emotionalen Distanzierung, könnte ihr das bei dem Prozess der Aneignung geholfen haben, weil sie auf diese Weise die Kontrolle über diese dramatische Situation behalten konnte.
Über diese Deutung hinaus lässt der Text aber auch Rückschlüsse darauf zu, wie Salomon ihre Ausweisung in den größeren Zusammenhang von Flucht, Vertreibung und Unterdrückung ihrer Zeit und der vorausgehenden Jahrhunderte einordnete und wie sie in diesem Moment auf ihre eigene Zukunft schaute. Die Nachricht der Gestapo, Deutschland innerhalb von drei Wochen verlassen zu müssen, kommentierte Salomon im Typoskript wie folgt: „This was like a lightning, coming from a clear sky – completely like a shell-shot. An emergency which I had never contemplated ever for a second in my worst dreams.“12 Während diese Reaktion die Deutung zulässt, dass die erzwungene Emigration Salomon völlig unerwartet traf und emotional erschütterte, widerlegt ihre Bemerkung, sie hätte Deutschland schon längst verlassen, hätte man ihr nicht den Zugang zu ihrem Vermögen verwehrt,13 diese Vermutung. Auch das folgende Zitat, kann so verstanden werden, dass Salomon sich der Situation der nationalsozialistischen Verfolgung und Vertreibung durchaus bewusst war. Sie schreibt: „A neccessary period of my life has come to an end, neccessary for the development of my moral strength. There is only one thing I ask from my friends: Do not make any fuss about me and my affairs! I am not the first and shall not be the last who has been persecuted.“14
Die Textstelle erlaubt noch weitere Rückschlüsse, wie sie ihre Vertreibung deutete: Indem Salomon ihre Verfolgungsgeschichte in den Rahmen einer übergreifenden, globalen Verfolgungs- und Unterdrückungsgeschichte einordnet, der Menschen seit Jahrhunderten ob ihrer Herkunft, Religion oder Klassenzugehörigkeit unterworfen wurden, relativiert sie (nicht nur) ihre eigene Vertreibung. Ob sie diese Einordnung aus voller Überzeugung vornahm oder um ihre Freund:innen und sich selbst zu beruhigen und/oder zu ermutigen, lässt sich an dieser Stelle nicht rekonstruieren. Die Einbettung ihrer persönlichen Verfolgung in eine globale Menschheitsgeschichte erweckt darüber hinaus den Eindruck, dass Salomon ihre Erfahrung als eine Art unabwendbares Schicksal einordnet und somit auf eine gewisse Art und Weise akzeptiert. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass Salomon das Memorandum mit einem Bibelzitat schließt15 sowie der zuversichtlichen Aussage, ihr würde geholfen werden, weil auch sie ihr Leben lang geholfen habe. Salomon scheint einem ausgeprägten Glauben an das Gute im Menschen zu verhaften.
Diese Haltung findet sich auch in der Beschreibung ihrer Interaktion mit den Verhörenden wieder. Salomon schreibt: „At about the beginning of this interrogation, – I cannot quite remember when it was, – he asked me whether I had met any Jews abroad, or something like that, and I answered that I am not Jewish but Lutherean. I had the impression as if he was rather glad and hoped that trouble might be averted from me, but I added instantly that I was of Jewish descent and, according to the terminology of the Third Reich, jewish.“16
Wir können festhalten: Obwohl Salomon 1933 von den Nationalsozialist: innen aller ihrer Ämter im deutschen Reich enthoben wurde und die von ihr gegründete Sozialarbeitsschule nicht mehr betreten durfte, obwohl sie in ihrem engeren und weiteren Umfeld die Verfolgung und Vertreibung von „Nicht-Ariern“ direkt miterlebte und sich vielfach in Hilfsinitiativen für durch das NS-Regime Verfolgte und Vertriebene engagierte, und obwohl sie sich nun schließlich selbst der unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt sah, beschreibt sie sich in diesem Selbstzeugnis nicht als handlungsunfähiges Opfer. Im Gegenteil, so schreibt sie: „I was not in the least afraid, not for a single minute.“17 So hinterlässt die Lektüre bei der Leserin einen ganz bestimmten Eindruck: Salomon hatte keine Angst und war nicht eingeschüchtert, sie fühlte sich weder von den Nazis bedroht noch konnte sie im Vorfeld einen Anlass erkennen, auf dessen Grundlage sie ausgebürgert werden könnte. Die Nachricht der Ausweisung akzeptiert sie ohne Gegenwehr, die ihr zugrundeliegenden Zuschreibungen jedoch weist sie bestimmt zurück.
Die rekonstruktive Auseinandersetzung mit Salomons biographischem Dokument stellt eine Möglichkeit dar, sich der Komplexität (nicht nur) historischer Situationen anzunähern. Vor allem wird es so möglich, Betroffene von Verfolgung, Gewalt und Ausgrenzung, weiterhin als handlungsfähige Subjekte zu begreifen. So zeigt sich das Manuskript nicht nur widerständig gegenüber der versuchten Des-Identifizierung durch die Nazis, sondern auch gegenüber der erzwungenen Positionierung als Opfer des Regimes.18
Referenzen
- Seit dem 26. April 1933 war das „Geheime Staatspolizeiamt“ in der Prinz-Albrecht-Straße 8 ansässig. Es verfügte über ein „Hausgefängnis“, wo insgesamt bis zu 15.000 politische Gegner:innen inhaftiert, vernommen und zum Teil gefoltert wurden (Sander, Andreas, Das “Hausgefängnis” der Gestapo-Zentrale in Berlin. Terror und Widerstand 1933–1945, in: Gedenkstätten-Rundbrief 127, 2005, S. 9–12). Salomon schreibt im Memorandum: „Then I was sent to the corridor which had iron bars on both sides. I suppose that these gates can be automatically closed instantly in case somebody tries to escape. (But this is guess-work only. In any case people are not admitted to this corridor unless they present their summons. No one may accompany a person who has been summoned. However, I had never thought of bringing someone with me.)“ (Alice Salomon: Memorandum. Notes about an interrogation by the „Gestapo“ (German Secret Policie [sic]), June 16th 1937, Leo-Baeck-Institute, AR 3875 / MF 1044 S. 5).
Der Sitz des SS-Reichsführers und Chefs der Polizei, Heinrich Himmler, befand sich unmittelbar nebenan. Das Gebäude wurde im 2. Weltkrieg zerstört, ein Großteil der Akten von Gestapo-Angehörigen kurz vor Kriegsende vernichtet. - Salomon, Alice, Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen, aus dem Englischen übersetzt von Rolf Landwehr, hrsg. v. Rolf Landwehr und Rüdeger Baron, Weinheim & Basel 1983.
- Wieler, Joachim, Er-Innerung eines zerstörten Lebensabends. Alice Salomon während der NS-Zeit (1933−1937) und im Exil (1937–1948), Darmstadt 1987.
- In ihrer Autobiographie schreibt Salomon, direkt im Anschluss an das Verhör den befreundeten Anwalt Curt kontaktiert zu haben, der ihr angeraten habe, die Erlebnisse zu ihrem Schutz vor der Gestapo so geheim und diskret wie möglich zu behandeln (vgl. Salomon, Charakter, S. 302). Beziehen wir diese Information aus Salomons biografischer Rückschau in die Deutung des Dokuments mit ein, könnte der dezidierte Verweis im Dokumentenkopf auf eine ausschließlich persönliche Nutzung aus der Motivation des Selbstschutzes erwachsen sein – so verschließt der Zusatz das Dokument auf symbolischer Ebene vor den Augen der Öffentlichkeit.
- Auch ihre Autobiographie hat Salomon in englischer Sprache verfasst. Es ist ihr nicht gelungen, das Buch noch zu ihren Lebzeiten zu veröffentlichen. Nachdem es lange verschollen geglaubt war, wurde ein Typoskript Ende der 1970er Jahre bei Salomons Großnichte Ilse Eden gefunden, anschließend ins Deutsche übersetzt und publiziert. Nachdem ein weiteres, umfangreicheres Skript aufgetaucht war, erschien 2004 eine englischsprachige Ausgabe auf dessen Basis (Salomon, Alice, Character is Destiny. The Autobiography of Alice Salomon, ed. by Andrew Lees. Michigan 2004).
- Vgl. Salomon, Charakter, S. 296ff.
- Salomon, Memorandum.
- Salomon, Charakter, S. 296.
- Salomon, Memorandum, S. 9.
- Ebd., S. 4.
- Ebd., S. 1.
- Ebd., S. 10. Das Zitat ist auch in der Hinsicht bemerkenswert, als dass es sich um eine der wenigen Textstellen im Dokument handelt, die konkrete Rückschlüsse über Salomons Gefühlswelt zulassen.
- Ebd., S. 12.
- Ebd.
- Ebd., Das Zitat lautet: „By evil reports and good reports… As dying, and behold, we live. As sorrowful, but all way rejoicing. As having nothing and yet possessing all things.“ Es stammt aus 2. Korinther 6:8–10.
- Ebd., S. 4. Zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung konnte sich Salomon dem Ausmaß der nationalsozialistischen Terrorherrschaft noch nicht gewahr sein.
- Ebd., S. 9.
- Über diesen Link sind weitere persönliche Dokumente, Zeitungsausschnitte, Korrespondenzen von Alice Salomon zwischen 1872–1937 aufzurufen. Seite 70ff. zeigt Alice Salomons Reisepass, der ihr von den Nationalsozialisten zwecks ihrer Ausweisung ausgestellt wurde. Er war sechs Monate lang gültig und musste von Alice Salomon an der holländischen Grenze in Bentheim persönlich abgeholt werden. Der Pass zeigt die Stationen ihrer Flucht. Es finden sich Stempel des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Spaniens, Österreichs und der Schweiz.