Im Zuge des Überfalls NS-Deutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941 fielen über fünf Millionen sowjetische Soldaten und Soldatinnen in deutsche Kriegsgefangenschaft, von denen mehr als die Hälfte die Haft nicht überlebte.2 Neben Zehntausenden, die als sogenannte „untragbare Elemente“ unmittelbar nach der Gefangennahme erschossen wurden3, sowie einem Teil, der in Lagern nahe der Front oder in den besetzen Gebieten verblieb, wurden zwischen 1941 und 1945 mindestens 1,4 Millionen sowjetische Kriegsgefangene ins Reichsgebiet transportiert.4 Das Schicksal dieser Gefangenen im Deutschen Reich ist in den letzten Jahrzehnten recht umfangreich erforscht worden, allerdings vor allem mit Hilfe von Wehrmachtsdokumenten wie Gefangenenkarteien, Kommandoberichten oder Besprechungsprotokollen. Diese oft seriellen Täterquellen sind zwar wertvolles historisches Material, lassen aber wenig Rückschlüsse auf das Verhalten und die Erfahrungen der Gefangenen selbst zu. Als wichtige Ergänzung sollten daher Egodokumente herangezogen werden.
In meinem Beitrag möchte ich einen kleinen Bestand solcher Egodokumente beispielhaft beleuchten: Es handelt sich hierbei um Briefe, in denen ehemalige sowjetische Kriegsgefangene ihre Erinnerungen an Krieg, Gefangennahme, Haftzeit, Befreiung und Nachkriegszeit wiedergeben. Diese Briefe sind dem Archiv des Vereins Kontakte-KontaktbI – Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion entnommen. Dieser sammelt seit 2003 Geldspenden, welche er an ehemalige sowjetische Kriegsgefangene übermittelt. Viele erfüllten anschließend den Wunsch des Vereins nach Zeugenschaft und schrieben in Briefen ihre Erinnerungen auf. Während einige dieser Briefe 2007 in einem Buch veröffentlicht wurden,5 und andere auf der Website des Vereins zugänglich sind, will ich mich im Folgenden exemplarisch einem unveröffentlichten Brief des ehemaligen Gefangenen Nikolaj S. aus dem Jahr 2005 widmen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche (neuen) Aussagen sich über Handlungsspielräume und Verhaltensweisen der Gefangenen selbst sowie der sie umgebenden Akteur:innen treffen lassen.
Der Unterleutnant Nikolaj S. geriet im Juli 1941, also kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, im Alter von 19 Jahren in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach Zwischenstationen in mehreren Durchgangslagern (Dulags) wurde er schließlich im Stammlager (Stalag) IV B Mühlberg im heutigen Brandenburg registriert.6 In seinem Brief schildert S. zahlreiche Beispiele für Begegnungen mit der deutschen Bevölkerung während seiner Haft. Schon im Lager Mühlberg beschreibt er eine Art Musterung, bei der anwohnende Bauern Gefangene als Arbeitskräfte auswählten: „Eine Frau prüfte aufmerksam, ob ich Hörner habe. Ich sagte, dass ich kein Tier, sondern ein Mensch bin.“7 An anderer Stelle berichtet Nikolaj S. vom Ascheankauf durch Bauern, die diese Krematoriumsreste offenbar als Dünger nutzen.8 Doch neben diesen Beispielen für eine Verwicklung der deutschen Bevölkerung in den Verbrechenskomplex der Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit, finden sich auch Stellen im Brief, die deutlich machen, dass eine klare Kategorisierung der Deutschen als Täter:innen oder Bystander hier vereinfacht wäre. In einem Arbeitskommando in Dresden, bei dem Nikolaj S. auf einem Flugplatz eingesetzt war, pflegten die Gefangenen offenbar Tauschgeschäfte mit einheimischen Arbeiter:innen: „An der Arbeitsstelle konnte ich Farben und Holz beschaffen. Im Lager fertigten wir Kinderspielzeuge. Am Sonntag kauften es die Deutschen oder tauschten gegen Brot.“9 Obwohl sich auf dieser Grundlage keine klaren Aussagen über die genauen Handlungsmotive der Beteiligten treffen lassen, wird deutlich, dass sich die Arbeiter:innen hier über die strikten Verbote zum Umgang mit Kriegsgefangenen hinwegsetzten und die Überlebenschancen der Gefangenen durch solche Tauschgeschäfte faktisch erhöhten.10 Noch deutlicher wird die Unterstützungsleistung bei Schenkungen. So berichtet Nikolaj S., ebenfalls aus seiner Zeit in Dresden, von mehreren Hilfeleistungen durch Deutsche: „Mein Meister war gut. Seine Frau gab mir ständig etwas Butter und Wurst.“ Und an anderer Stelle: „In [einer] Bierstube arbeitete eine Deutsche, Irina. Sie warf heimlich in meinen Kessel etwas Kartoffel oder Fett.“ Die zusätzliche Bemerkung, dass diese Handlung verdeckt erfolgte, verweist auf das Risiko, welches bei solchen Praktiken bestand.
Auch die vielfältigen Handlungsspielräume der Gefangenen selbst werden an zahlreichen Beispielen deutlich. Nikolaj S. und seine Mitgefangenen versuchten durch verschiedene Praktiken, ihre Zwangslage zu verbessern. Eine Möglichkeit war dabei das bereits erwähnte Tauschgeschäft. Durch die heimliche Herstellung von Objekten, wie dem oben erwähnten Holzspielzeug, konnte die Versorgungssituation zumindest kurzfristig verbessert werden. Solche Beispiele sind deshalb bemerkenswert, da Sie zeigen, dass die Gefangenen sich über den totalen Kontrollanspruch ihrer deutschen Bewacher hinwegsetzten. Und dies, obwohl bereits solches Verhalten schnell als Sabotage am Arbeitsplatz ausgelegt werden konnte und unter drakonische Strafen gestellt wurde.11 Nikolaj S. selbst war offenbar sogar an noch radikaleren Widerstandsformen beteiligt. So berichtet er von Sabotage bei der Firma C.L.P. Fleck Söhne:12 „Wir fertigten Ersatzteile für U‑Boote. Wir machten mit Absicht die Teile kaputt. Nach der Prüfung wurden einige Gefangenen weggeführt.“13 Kurz vor Kriegsende nutze er die mit Kampfhandlungen verbundene Sperrung einer Brücke und die sich daraus ergebende Verzögerung seines Transports schließlich zur Flucht: „Ein Offizier hat unserem Wächter nicht genehmigt, sich weiter zu bewegen. Unten war ein Fluss zu sehen. Ich habe mich entschieden zu fliehen. Ich hatte ein Messer dabei. Ich stach einen Reifen durch und machte damit unser Fuhrwerk lahm. Ich sprang runter und lief rasch. Der Wächter schoss ein paar Mal, traf mich aber nicht.“14
Solche Fluchten sowjetischer Kriegsgefangener waren keine Seltenheit, sind im Detail aber nur unter Berücksichtigung solcher Selbstzeugnisse rekonstruierbar.15 Dieses und die weiteren hier exemplarisch am Brief von Nikolaj S. herausgearbeiteten Beispiele machen den Wert solcher Quellen deutlich: Neben der bereits ausführlich erforschten, vor allem aber aus der Perspektive der Täter rekonstruierten Vernichtungspraxis, ermöglicht sich hier ein Blick auf das individuelle und kollektive Erleben und Erfahren der Opfer sowie auf deren Handlungsmöglichkeiten in einer existenziellen Zwangslage. So wird nicht nur das Leiden, sondern auch die Agency des Einzelnen in der Geschichte sichtbar.
Downloads
Referenzen
- Brief Nikolaj S. vom 01.09.2005, Archiv KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. Berlin.
- Die genaue Zahl der gefangenen und verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen ist bis heute auf Grund der fragmentarischen und widersprüchlichen Quellenlage nicht genau zu bestimmen. Am populärsten ist die 1978 von Christian Streit aufgestellte Zahl von 5,7 Millionen Gefangenen und 3,3 Millionen verstorbenen. Vgl. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978. Zum Forschungsstand siehe Reinhardt Otto/ Rolf Keller/ Jens Nagel, Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941–1945, in: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, 56 (2008), Heft 4.
- Dazu siehe Reinhardt Otto, Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im sowjetisch-deutschen Reichsgebiet 1941⁄42, München 2010 sowie Felix Römer, Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941⁄42, Paderborn 2008.
- Otto/ Keller/ Nagel, Sowjetische Kriegsgefangene, S. 589.
- KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. (Hrsg.): „Ich werde es nie vergessen“. Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004–2006, Berlin 2007.
- Brief Nikolaj S. vom 01.09.2005, Archiv KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. Berlin.
- Ebd.
- Vgl. ebd.
- Vgl. ebd.
- Solche Hilfeleistungen fielen unter den Tatbestand des „Verbotenen Umgangs“. Zur Aufrechterhaltung der rassistischen Segregation der deutschen Gesellschaft stand dieser seit 1939 per Verordnung im Reichsgesetzblatt unter Strafe. Der Paragraph 4 regelte den „Verbotenen Umgang mit Kriegsgefangenen“. Dort hieß es, wer „mit einem Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang pflegt, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt, wird mit Gefängnis, in schweren Fällen mit Zuchthaus bestraft.“ Eine „Verordnung für den Umgang mit Kriegsgefangenen“ im Mai 1940 spezifizierte den erlaubten Umgang auf das absolut notwendige Maß im Rahmen einer „Dienst- oder Berufspflicht“ oder eines „Arbeitsverhältnis“ und stellte damit jeglichen weiteren Umgang unter Strafe. Die Bevölkerung riskierte hier also zumindest eine Gefängnisstrafe. Inwieweit solche Vergehen tatsächlich verfolgt wurden, hing auch von den Betrieben ab. Vgl. Abschrift aus: Reichsgesetzblatt Teil I Nr. 238 vom 30. November 1939 Seite 2319: Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutz der Wehrkraft des Deutschen Volkes vom 25. November 1939, BArch-MA, RW 48⁄12, Bl. 3 sowie Abschrift aus: Reichsgesetzblatt Teil I Nr. 86 vom 17.5.1940 Seite 769: Verordnung über den Umgang mit Kriegsgefangenen vom 11. Mai 1940, BArch-MA, RW 48⁄12, Bl. 4.
- Die AEG-Werke in Berlin bspw. übergaben sowjetische Kriegsgefangene bei Entdeckung solcher Handlungen an die Gestapo. Vgl. Schreiben Personalabteilung 23.5.44, betrifft: Diebstähle von Werkseigentum, LAB, A Rep. 227–05 AEG, Nr. 137.
- Nikolaj S. betitelt die Firma in seinem Brief als „Firma Flecksohn“. Es handelt sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit um die Firma C.L.P. Fleck Söhne aus Berlin Reinickendorf.
- Brief Nikolaj S. vom 01.09.2005, Archiv KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. Berlin.
- Ebd.
- Schätzungen gehen von zehntausenden Fluchten aus. Vgl. Daria Koslova, Sowjetischer Kriegsgefangene in den Konzentrationslagern, in: Margot Blank/ Babette Quinkert (Hrsg.), Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg, S. 221. Rolf Keller und Reinhard Otto zitieren eine Aufstellung des Oberkommandos der Wehrmacht, wonach mit Stand vom Mai 1944 66.694 sowjetische Soldaten als erfolgreich geflohen galten. Vgl. Reinhardt Otto / Rolf Keller: Sowjetische Kriegsgefangene im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2019, S. 176.