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„A woman, who lives alone.”

Hatidža Mehmedovićs Foto und die Repräsentation des Genozids von Srebrenica 1995, Bosnien-Herzegowina, 2009

Text: Sabina Ferhadbegović

Auf dem Foto bleibt sie im Hin­ter­grund. Sie schaut nicht in die Kame­ra. Ihren Blick rich­tet sie nach oben, in die Wei­te. In den Vor­der­grund schiebt sie drei gro­ße Foto­gra­fien, gerahm­te Schul­por­träts ihrer Söh­ne Almir und Azmir und das Bild ihres Man­nes Abdu­lah. In die rech­ten Ecken der gerahm­ten Bil­der sind Pass­fo­tos von ihr und ihrem Mann gesteckt. Wir sehen sie mit ihrer Fami­lie, und wir sehen sie allein im Hin­ter­grund. Auf dem Bild trägt sie ein Kopf­tuch. Wir sehen ihre Hän­de, bevor wir ihr Gesicht wahr­neh­men. Es ist das Gesicht einer erns­ten, ent­schlos­se­nen Frau. Wir wis­sen nichts über sie, über die­se Mut­ter, über die­se Fami­lie, und doch ahnen wir auf den ers­ten Blick, dass die­sem Foto eine tra­gi­sche Geschich­te vor­aus­geht. Das liegt dar­an, dass wir sol­che Bil­der ken­nen: Spä­tes­tens seit den 1970er Jah­ren sind sie zu sym­bo­li­schen Zei­chen des Pro­tests gegen Staats­ver­bre­chen und poli­ti­sche Gewalt gewor­den.1 Von den „Mad­res de Pla­za de Mayo“ („Müt­ter des Plat­zes der Mai­re­vo­lu­ti­on“) bis zu ihr, Hati­dža Meh­me­do­vić, und ihren „Majke Sre­bre­nice“ („Müt­ter von Sre­bre­ni­ca“) hal­ten Frau­en Bil­der von ihren ver­schwun­de­nen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen in die Kame­ra und for­dern Auf­klä­rung nach ihrem Ver­bleib. Dadurch sind ihre Fotos zu einem mäch­ti­gen Zei­chen des Wider­stands gewor­den und ver­sinn­bild­li­chen den viel­schich­ti­gen und kom­mu­ni­ka­ti­ven Cha­rak­ter von Foto­gra­fie als poli­ti­sches Medi­um.2

Das Bild von Hati­dža wur­de 2009 vom Foto­gra­fen Amel Emrić auf­ge­nom­men, 14 Jah­re nach dem Geno­zid von Sre­bre­ni­ca. Als am 11. Juli 1995 die Sol­da­ten der bos­nisch-ser­bi­schen Armee unter­stützt durch Poli­zei und para­mi­li­tä­ri­sche ser­bi­sche Ein­hei­ten die UN-Schutz­zo­ne Sre­bre­ni­ca erober­ten, hat­te Hati­džas Fami­lie bereits drei Jah­re Bela­ge­rung unter wid­rigs­ten Bedin­gun­gen über­lebt. Sie gehör­ten zu den Bos­nia­ken, bos­ni­schen Mus­li­men, die seit dem Aus­bruch des Krie­ges in Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­na im April 1992 stark unter Ver­fol­gung und Ver­trei­bung lit­ten.3 Die nie­der­län­di­schen UN-Sol­da­ten waren mit dem Angriff der ser­bi­schen Trup­pen über­for­dert. Schnell zeig­te sich, dass das Ver­spre­chen einer Schutz­zo­ne nichts wert war. Die Armee der Repu­bli­ka Srps­ka unter dem Kom­man­do von Rat­ko Mla­dić über­nahm die Kon­trol­le: Sei­ne Sol­da­ten ver­trie­ben die Men­schen, töte­ten sie in ihren Häu­sern, grif­fen sie in den Wäl­dern auf, töte­ten sie in Gru­ben, in ehe­ma­li­gen Fabri­ken, an Ort und Stel­le, nur weil sie bos­ni­sche Mus­li­me waren. Hati­dža hat­te es von ihrem Dorf bis zum UN-Haupt­quar­tier in Potoča­ri geschafft. Ihre Söh­ne und ihr Mann ver­trau­ten der UN nicht und woll­ten die 70 Kilo­me­ter bis zum bos­nisch-kon­trol­lier­ten Ter­ri­to­ri­um durch die Wäl­der im Fuß­marsch lau­fen.4 Sie behiel­ten recht: In Potoča­ri trenn­ten die ser­bi­schen Sol­da­ten vor den Augen der nie­der­län­di­schen Blau­hel­me Män­ner von Frau­en. Die Män­ner wur­den spä­ter ermor­det. Frau­en, Kin­der und Alte in Bus­sen nach Tuz­la depor­tiert. Hati­dža stieg in einen Bus ein und hoff­te, Abdu­lah, Azim und Almir in Tuz­la zu tref­fen. Am Stra­ßen­rand sah sie, wie Bos­nia­ken mit erho­be­nen Armen abge­führt wur­den. Aus ihrem Bus wur­de ein Jun­ge gewalt­sam von sei­ner Mut­ter getrennt und mit­ge­nom­men. Sie glaub­te nicht an ein Über­le­ben, son­dern dar­an, dass sie alle ermor­det wür­den. Nie­mand von der UN war da, um zu kon­trol­lie­ren, was die ser­bi­schen Ein­hei­ten mit ihnen machten.

Den­noch gelang es ihr, das von der bos­ni­schen Armee kon­trol­lier­te Gebiet zu errei­chen. Dort war­te­te sie mit ande­ren Frau­en auf ihre Ange­hö­ri­gen, aber sie kamen nicht. Nach sechs Tagen schaff­ten es ver­ein­zelt ande­re und brach­ten schreck­li­che Geschich­ten mit. Über 8.000 Men­schen fehl­ten. Die Über­le­ben­den, die durch den Wald gelau­fen waren, berich­te­ten von Fest­nah­men, Erschie­ßun­gen, Gra­na­ten, Tod. Hati­dža hat­te über­lebt, aber von nun an war sie allein. Tage ver­gin­gen im War­ten. Wochen des War­tens. Und täg­lich such­te sie nach ihren Ange­hö­ri­gen. Tröpf­chen­wei­se sicker­ten Nach­rich­ten durch, hier und da woll­ten Über­le­ben­de Abdu­lah gese­hen haben, ande­re Azmir, wie­der ande­re Almir. Hati­dža wuss­te nicht, was sie glau­ben soll­te. In den Flücht­lings­la­gern star­te­ten die Über­le­ben­den eine ers­te Initia­ti­ve und sam­mel­ten Fotos ihrer „Ver­schwun­de­nen“. Oft waren es die Pass­fo­tos aus Doku­men­ten, die sie auf der Flucht in ihren Plas­tik­tü­ten bei sich tru­gen. Die Frau­en von Sre­bre­ni­ca han­del­ten instink­tiv, als sie die­se Pass­fo­tos ihrer Män­ner aus­stell­ten und ihnen ein Gesicht gaben. Lis­ten von Namen ent­wi­ckeln eine ande­re Wir­kung als Foto­gra­fien. Und auch wenn Pass­bil­der von Sus­an Son­tag kri­tisch als Aneig­nung von Indi­vi­du­en und ihre Anpas­sung in das Sche­ma­ta der staat­li­chen Klas­si­fi­zie­rung und Spei­che­rung bewer­tet wur­den,5 bestä­tig­ten sie in die­sem Fall, dass die ver­schwun­de­nen Män­ner gelebt haben. Mit den Pass­bil­dern ihrer Män­ner zeug­ten die Frau­en davon, dass das Sys­tem die Exis­tenz der Män­ner negier­te, die es selbst doku­men­tiert hat­te. Denn über ihr Ver­schwin­den herrsch­te im ser­bisch kon­trol­lier­ten Teil Bos­ni­en-Her­ze­go­wi­nas (Repu­bli­ka Srps­ka) Schwei­gen. Wäh­rend sich Über­le­ben­de an offi­zi­el­le und halb­of­fi­zi­el­le Behör­den, inter­na­tio­na­le und natio­na­le Orga­ni­sa­tio­nen und bekann­te und unbe­kann­te Men­schen wand­ten, um Infor­ma­tio­nen über die „Ver­schwun­de­nen“ zu erlan­gen, ver­such­ten die Ver­ant­wort­li­chen in der Repu­bli­ka Srps­ka die Mas­sen­tö­tun­gen zu ver­tu­schen. Sie öff­ne­ten die Mas­sen­grä­ber, hoben die mensch­li­chen Über­res­te aus und ver­scharr­ten sie teil­wei­se hun­der­te von Kilo­me­tern wei­ter in Gru­ben, Däm­men und alten Tage­wer­ken.6 In einem Mas­sen­grab soll­ten mög­lichst weni­ge Über­res­te blei­ben, um den geno­zi­da­len Cha­rak­ter des Ver­bre­chens zu verschleiern.

2009, als ihr Bild ent­stand, gal­ten die Söh­ne und der Mann von Hati­dža wei­ter­hin als ver­misst. Seit 1996 und dem ers­ten Auf­fin­den von Mas­sen­grä­bern such­te sie nach ihnen, zusam­men mit ande­ren Frau­en aus Sre­bre­ni­ca, im Rah­men ihrer Orga­ni­sa­ti­on „Majke Sre­bre­nice“, die sie 2002 auch offi­zi­ell als Ver­ein ein­tru­gen. Hati­dža stieg auf als ihre Vor­sit­zen­de. Der Geno­zid dräng­te die­se häu­fig sehr tra­di­tio­nel­len Frau­en aus ihren pri­va­ten Rol­len in die Rol­le von Akti­vis­tin­nen, die in der Öffent­lich­keit poli­ti­sche For­de­run­gen und kri­ti­sche Fra­gen nach der Ver­ant­wor­tung der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft stell­ten. Ihr Ver­lust und ihr gemein­sa­mes Auf­tre­ten ver­lie­hen ihnen eine mora­li­sche Legi­ti­mi­tät, die sie öffent­lich immer wie­der nutz­ten. 2002 kehr­te Hati­dža als eine der ers­ten nach Sre­bre­ni­ca zurück und leb­te unter Men­schen, die mit­ver­ant­wort­lich waren für den Geno­zid an Bos­nia­ken, für die Ermor­dung ihrer Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen. Men­schen, die Bus­se gefah­ren sind, mit denen Män­ner trans­por­tiert wur­den, die Erschie­ßungs­stel­len abge­si­chert haben, die geschos­sen haben.

Als Über­le­ben­de erin­ner­te Hati­dža mit ihrem Zeug­nis an ihre ver­schwun­de­nen Söh­ne und ihren Mann. Indem sie ihre gan­ze Fami­lie ins Bild setz­te, mach­te sie deut­lich, was Völ­ker­mord für die Über­le­ben­den bedeu­tet. Dass sie allein blei­ben. Ihr Bild steht für den bemer­kens­wer­ten Kampf einer Mut­ter, Über­le­ben­den und Akti­vis­tin um Wahr­heit und Gerech­tig­keit. Ein Kampf gegen die anhal­ten­de Gewalt der Völ­ker­mord­leug­nung. Und eines Kamp­fes um das Schrei­ben ihrer eige­nen Geschich­te, ihrer Geschich­te des Geno­zids. Ihr Bild ver­schränkt daher ver­schie­de­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­nen: Es ver­bin­det die Ver­gan­gen­heit mit der Gegen­wart, erin­nert an ihre Ange­hö­ri­gen, dar­an, dass sie Teil einer Fami­lie, einer Gemein­schaft waren, erin­nert an ihre Kin­der und ihren Mann. Die­se loka­le und per­sön­li­che Ebe­ne, die zugleich an uni­ver­sel­le Wer­te anknüpft, wird in eine inter­na­tio­na­le Tra­di­ti­on des visu­el­len Pro­tests ein­ge­bet­tet und so aus ihrer loka­len Geschich­te in einen glo­ba­len Kon­text über­führt. Mit ihrem Selbst­por­trät setzt Hati­dža ein welt­weit erkenn­ba­res Zei­chen gegen das Ver­ges­sen, gegen Unge­rech­tig­keit, gegen Ver­leug­nung, gegen Völ­ker­mord, gegen Krieg. Die Fotos ihrer Fami­lie zei­gen sie glück­lich, aus einer bes­se­ren Zeit. Sie erzeu­gen bei Betrach­ten­den ein beson­de­res Mit­ge­fühl, weil wir Men­schen sehen, die vor dem Völ­ker­mord ein ande­res, unser Leben gelebt haben. Sie erzeu­gen auch eine Soli­da­ri­tät mit der lei­den­den Mut­ter – eine „kol­lek­ti­ve Mut­ter­schaft“7, die im visu­el­len Reper­toire von Pie­tà bis Käthe Koll­witz immer wie­der neu über­schrie­ben wird und poli­ti­sches Han­deln akti­viert. Gleich­zei­tig erin­nert uns der Kon­trast zwi­schen den Bil­dern der Fami­lie und dem Bild der ein­sa­men Hati­dža im Hin­ter­grund an den trau­ma­ti­schen Bruch ihrer Mut­ter­schaft. Den Bruch, der sie in die Öffent­lich­keit zwang und zum Wider­stand führte.

Ihr Zeug­nis macht deut­lich, dass sie die Gewalt und das eth­no­na­tio­na­lis­ti­sche poli­ti­sche Pro­jekt der ser­bi­schen mili­tä­ri­schen und poli­ti­schen Füh­rung ablehnt, das sie von ihrem Leben vor dem Völ­ker­mord abge­schnit­ten hat. Es nahm ihr ihre Fami­lie, ihr Land, ihren Gar­ten, ihr Haus, ihre Foto­al­ben und die Schul­hef­te ihrer Kin­der. Hati­džas Bild zeigt, dass sie die­se Gewalt nicht akzep­tiert und nicht ver­gisst. Sie wei­gert sich zu schwei­gen. Sie wei­gert sich, eine gewalt­tä­ti­ge Kriegs­ord­nung zu akzep­tie­ren. Die­se Ver­wei­ge­rung erin­nert uns dar­an, dass wir es nicht hin­neh­men dür­fen, dass Sol­da­ten in weni­gen Tagen mehr als 8.000 Men­schen ermor­den, nur weil sie einer natio­na­len, eth­ni­schen oder reli­giö­sen Grup­pe ange­hö­ren. Es ist nicht hin­nehm­bar, dass ihre sterb­li­chen Über­res­te aus­ge­gra­ben und ver­scharrt wer­den, so dass ihre Ange­hö­ri­gen jahr­zehn­te­lang von Mas­sen­grab zu Mas­sen­grab pil­gern, in der Hoff­nung, Spu­ren zu fin­den, um ihre Väter und Söh­ne und Ehe­män­ner beer­di­gen zu kön­nen. Es ist nicht hin­nehm­bar, dar­über zu schweigen.

Hati­džas Bild ver­deut­licht somit, wel­che Bedeu­tung der foto­gra­fier­ten Per­son zukommt, um die Foto­gra­fie selbst zu ana­ly­sie­ren. Der Foto­graf Emrić bleibt im Hin­ter­grund. Es ist Hati­džas Han­deln, das die Bedeu­tung der Foto­gra­fie bestimmt. Es ist ihr Leben, das uns gezeigt wird. Es ist ihre Geschich­te, die Hati­dža uns prä­sen­tiert, mit der Kraft einer Mut­ter, die sich gegen Unrecht auflehnt.

Referenzen

  1. Sie­he dazu auch Dani­el Meba­rek, Hol­ding Onto You: Pho­to­graphs as Pro­test Signs, 12.04.2021, in: Theo­ry & Prac­ti­ce, https://www.magnumphotos.com/theory-and-practice/holding-onto-you-photographs-protest-signs/ (abge­ru­fen am 18.06.2024).
  2. Ari­el­la Aīsha Azou­lay, Civil Ima­gi­na­ti­on. A Poli­ti­cal Onto­lo­gy of Pho­to­gra­phy, London/New York 2012, S. 178–179.
  3. Der Sre­bre­ni­ca Report des nie­der­län­di­schen Insti­tu­te for war, holo­caust, and geno­ci­de stu­dies beschreibt und ana­ly­siert den Fall von Sre­bre­ni­ca und gibt zahl­rei­che Quel­len wie­der. Sie­he http://publications.niod.knaw.nl/publications/srebrenicareportniod_en.pdf (abge­ru­fen am 24.6.2024).
  4. Hati­dži­no kazi­van­je Ber­nisu Ade­mo­viću, in: Esne­fa Sma­j­lo­vić-Muhić, Maj­ka Hati­dža, Tuz­la 2020, S. 69–70.
  5. Sus­an Son­tag, On Pho­to­gra­phy, Lon­don 2008, S. 155–156.
  6. Urteil gegen Radis­lav Krs­tić, in: Krs­tić Jud­ge­ment, Punkt 128, https://www.icty.org/x/cases/krstic/acjug/en/ (abge­ru­fen am 20.6.2024).
  7. Uli­ses Gori­ni, La Rebe­lión de Las Mad­res. His­to­ria de las Mad­res de Pla­za de Mayo, Bue­nos Aires 2006, S. 387.
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