Der Erinnerungsbericht, den Hellmut Felle in den Jahren 1919–1920 aufschrieb, ist nicht kurz. Insgesamt 229 Seiten, fein säuberliche Schreibmaschinenschrift zusammen mit persönlichen Zeichnungen und Fotografien. Seine Schilderungen beginnen im August 1914, eine Zeit zu der Felle sich immer wieder im deutschen Konsulat in Barcelona einfand, um sich über eine potenzielle Mobilisierung zu informieren. Er war sogenannter Auslandsdeutscher, hatte in der deutschen Armee gedient, war nationalistisch gesinnt und einer von vielen, die 1914 zurück nach Deutschland reisten, um „für ihr Vaterland“ zu kämpfen. Schließlich fand er ein Schiff, dass ihn über Italien nach Deutschland bringen sollte. Doch seine Reise verlief anders. Er würde den Krieg zwar in Frankreich verbringen, jedoch nicht an der Front. Das Schiff wurde von der französischen Marine angehalten, Felle und andere Freiwillige wurden festgesetzt und nach Frankreich transportiert. Dort war er in verschiedenen Lagern interniert. 1916 bis Ende Oktober 1919 befand er sich auf der Île Longue bei Brest in Gefangenschaft. Sein Selbstzeugnis, von seinem Sohn an seine Enkelin Sabine Herrle übergeben, befindet sich digitalisiert auf der Seite des deutsch-französischen Vereins Ile Longue 14–18 e. V.1
Ein (un)zuverlässiger Erzähler?
Erlebnisberichte wie der von Helmut Felle bieten einen besonderen Zugang zur Vergangenheit. Erfahrungsgeschichte widmet sich der Frage, wie Menschen wie Felle Geschichte erlebten und deuteten. Es geht darum, das Verarbeiten von Erlebtem zu erforschen.2 Bevor wir jedoch den inhaltlichen Wert des Textes beurteilen können, müssen wir uns den Autor ansehen. Felle war „kaisertreu“ gesinnt. Für die Zeit nicht unüblich, findet sich dieser Blick auch in seinen Beschreibungen wieder und zeigt damit die Einfärbung seiner Erlebnisse:
„Auch das stolze Albion gesellt sich zu der Meute, um die Führung im Bund der Gegner zu übernehmen, um deutsche Kultur, deutsche Freiheit an Moskowiter und Welsche zu verraten. Sie, die von der Geschichte vorbestimmten Mitträger germanischer Ideen, schlagen sich um schnöden Vorteils willen zu unseren Feinden, üben freventlichen Verrat an Deutschlands Betsimmung [sic] in der Welt.“3
Dieser Bias lässt die Erinnerungen in einem bestimmten Licht erscheinen. Die offensichtlichen anti-französischen Stereotype entsprechen keiner getreuen Abbildung der Realität und sollten kritisch reflektiert werden. Auch Felles Beschreibungen von Gewalt oder Unrecht, müssen in diesem Kontext gesehen werden. Vergleiche mit anderen Selbstzeugnissen, Quellen oder bestehenden Forschungsergebnissen können dabei helfen, Einzelaussagen zu überprüfen. Gibt es ähnliche Beschreibungen oder nicht? Das Selbstzeugnis muss also in ein Netz anderer Informationen eingebettet werden, um es sinnvoll zu nutzen.
Tatsächliche Verfolgung?
Handelte es sich bei Hellmut Felles Erfahrungen also tatsächlich um Verfolgung oder einen normalen, aber von ihm ausgeschmückten Aspekt des Krieges? Genauso wie andere Kriegsteilnehmer verhaftete und internierte Frankreich Staatsangehörige der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg in Lagern. So sollte dem Feind mögliche Hilfe versagt werden. Laut Haager Landkriegsverordnung von 1907, welche den Umgang von Staaten im Kriegszustand regelte, bestand die „bewaffnete Macht der Kriegsparteien“ potenziell sowohl aus „Nichtkombattanten“ als auch „Kombattanten“.4 Beide durften bei Gefangennahme wie Kriegsgefangene behandelt werden. Somit war Felles generelles Schicksal durch den rechtlichen Rahmen gedeckt und nicht unüblich. Schwieriger wird es allerdings bei der Behandlung, sowie der Internierung dieser Individuen nach dem Versailler Friedensvertrag von 1919: So schrieb die Haager Landkriegsverodnung auch eine menschenwürdige Behandlung der Gefangenen vor. Für deren Unterhalt hatte der festhaltende Staat zu sorgen. In der Realität wurden solche Bestimmungen allerdings häufig übergangen.5 Felle beschreibt beispielsweise bereits 1914 die Verweigerung medizinischer Hilfe, was zum Tod einiger Gefangenen führte:
„Heute Nacht ist der seit einigen Tagen kranke, lustige Leipziger mitten unter uns gestorben. […] Wie zum Hohn klingt in die Stille das Trompetensignal, das die Kranken zum Arzt rufen soll. Nicht ein einziges Mal war Marcantoni [Lagerarzt im Lager Casabianda auf Korsika] bei dem Toten —- Eine Viertelstunde später wird ein Gefangener drei Tage eingesperrt, weil er sich krank meldete, aber vom Arzt als nicht krank befunden wurde.“6
Auch wenn Übertreibungen möglich sind, bestätigen andere Selbstzeugnisse Felles Beschreibung des Arztes.7 Eine Verbesserung der Haftbedingungen entstand allerdings daraus, dass sich die Feindstaaten gegenseitig mit einer Verschlechterung der Lagerbedingungen drohten. Waren die Bedingungen zu Kriegsbeginn also noch schlecht, entstand im Laufe der Zeit ein sog. Gegenseitigkeitsprinzip. So wurden auf der Île Longue Unterhaltungsmöglichkeiten wie Sportplätze und Unterrichtsmöglichkeiten geschaffen, Felle konnte sogar an Theaterstücken teilnehmen. Dieses Gegenseitigkeitsprinzip kippte 1918/1919 mit der Niederlage der Mittelmächte. Während sowohl die Haager Landkriegsverordnung als auch der spätere Versailler Friedensvertrag eine schnellstmögliche Rückführung von Gefangenen vorschrieben,8 war dies in Frankreich nicht zwingend der Fall. Dies lässt sich wie folgt veranschaulichen: In Frankreich befanden sich im Mai 1919 noch 2.500 Internierte, wobei einige Internierte sogar bis November 1919 verblieben.9 Großbritannien hingegen hatte alle 19.831 Internierten bis Mai 1919 fast vollständig freigelassen, die Übrigen waren meist freiwillig geblieben, um in Großbritannien zu leben.10 Da Deutschland seine französischen Internierten hatte freilassen müssen, schwand die Sorge vor Vergeltung. Matthew Stibbe argumentiert, dass sich gerade Zivilisten gut als Pfand für Forderungen eigneten.11 War die Versorgung und Behandlung während des Krieges besser geworden, wurde diese nun schlagartig schlechter. Felle beschreibt diese Zeit wie folgt:
„15. Juni 1919. Von Posten der französischen Wachmannschaft wurde schon wiederholt ins Lager geschossen. So heute auf meinen Kameraden R. aus Hamburg, als er abends vor der Baracke die Zähne putzte. Glücklicherweise ging der Schuss vorbei.“12
„29. September 1919. Die Nacht war bitterkalt, so dass ich meinen Mantel über meine Decken breiten musste um überhaupt warm zu haben. Die Posten vor dem Lager geben jetzt während der Nacht Schüsse ab, um uns vor dem Ausreissen abzuschrecken. An der Inselfurt wir[d] ein neuer Stacheldrahtzaun errichtet, die Wachmannschaft verstärkt und während der Nach [sic?] Horchposten in den Ginsterbüschen aufgestellt. Die Kohlen für die Küchen werden rationiert.“13
Ähnliche Erfahrungen finden sich in anderen Selbstzeugnissen, auch innerhalb der Forschung geht man von solchen Umständen aus.14 Auch willkürliche Gewalt wird in anderen Selbstzeugnissen beschrieben.15 Wir können also davon ausgehen, dass Felles Schilderungen nicht vollkommen aus der Luft gegriffen sind. Handelte es sich also um eine Erfahrung von Verfolgung? Jein. Die generelle Erfahrung von Internierung war rechtlich legitimiert. Allerdings waren Felles Haft und Behandlung gerade nach Abschluss des Friedensvertrags nicht nur rechtlich illegitim, sondern auch unnötigerweise unmenschlich.
Was wir lernen können
Der Beitrag von Hellmut Felle beleuchtet einen weniger präsenten Bereich des Ersten Weltkrieges. So brechen Selbstzeugnisse wie Felles alte Annahmen auf, die für den Ersten Weltkrieg sonst geläufig sind: Er war Deutscher, arbeitete aber in Spanien. Er war Zivilist, wollte aber kämpfen und wurde Kriegsgefangener. Seine Gefangennahme passt nicht in das Schema einer Front und Heimatfront. Seine längere Internierung zeigt, dass Aspekte des Krieges auch noch lange nach dem Krieg weiterbestehen konnten. Und der Fall macht die Schwierigkeit der Klassifizierung von Verfolgung deutlich. Auch wenn Felle national-konservativ war, auch wenn er während des Krieges kämpfen wollte, konnte er trotz alledem während und nach dem Krieg ein Opfer schlechter Behandlung und willkürlicher Internierung werden.
Felle selbst kehrte 1919 nach Deutschland zurück und behielt seine nationale Gesinnung bei. Allerdings meldete er sich 1939 nicht erneut freiwillig und war als Freimaurer Teil einer unbeliebten Gruppe im Nationalsozialismus. Dass sein Sohn wegen einer Behinderung nicht kämpfen konnte, soll ihn gefreut haben.16 Nach 1945 wählte er die FDP und war trotz seines anti-französischen Textes, laut seiner Enkelin, ein glühender Anhänger Charles de Gaulles, einem Architekten der Deutsch-Französischen Aussöhnung. Eine Recherche über mögliche Täterschaft im Nationalsozialismus brachte nichts zu Tage, es bleibt ein Rest Unsicherheit. Somit war Hellmut Felle auch nach seiner Haft eine Figur, die sich nicht einfach in altbekannte Kategorien fassen lässt.
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Referenzen
- Die Association Île Longue erforscht die Geschichte der Internierungslager auf der Insel.
- Alexander von Plato, Erfahrungsgeschichte. Erfahrungsgeschichte als Konzept, Hagen 2009, S. 5.
- Helmut Felle, Fünf Jahre hinter Stacheldraht, S. 4.
- Norbert B. Wagner (Hrsg.), Archiv des Humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten 3. Auflage, Brühl 2012, S. 28.
- Matthew Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees in Europe 1914–1920, in: Historical Studies in Ethnicity, Migration, and Diaspora 26 (2008), S. 55.
- Felle, Stacheldraht, S. 52–53.
- Max Brausewetter, J’accuse. Zwei Jahre französische Gefangenschaft, Berlin 1918, S. 90.
- Wagner, Archiv, S. 30; Der Friedensvertrag von Versailles Unter Hervorhebung der abgeänderten Teile mit Inhaltsaufbau, Karten und Sachregister, Berlin 1919, S. 99, https://archive.org/details/Der-Friedensvertrag-von-Versailles/mode/2up, abgerufen am 26.03.2023.
- Stibbe, Internment, S. 75.
- Ebenda.
- Ebenda.
- Felle, Stacheldraht, S. 178.
- Ebenda, S. 185.
- Aladar Kuncz, The Black Monastery, New York 1934, S. 376–378; Jean-Claude Farcy, Les Camps de Concentration Français 1914–1920, Paris 1995, S. 224.
- Ebenda.
- Sabine Herrle, Hellmut Felle „Fünf Jahre hinter Stacheldraht“ Vorbemerkungen von Hellmut Felles Enkelin Sabine Herrle, http://ilelongue14-18.eu/?Funf-Jahre-hinter-Stacheldraht-Bericht-des-Zivil-Internierten-Hellmut-Felle, abgerufen am 05.04.2023.