Paul Zarbock – Beamter im Widerstand
Fast 30 Jahre lang war Paul Zarbock kein Gegner, sondern ein treuer Vertreter des deutschen Staates gewesen. Im Alter von 26 Jahren kam der gebürtige Berliner 1912 zum Auswärtigen Amt, wo er auch den Ersten Weltkrieg erlebte und in den folgenden Jahren eine stetige Karriere in der Rechtsabteilung machte. Nachdem er in der Weimarer Republik zeitweise Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei gewesen war, weigerte er sich späteren Aussagen seiner Witwe zufolge nach 1933 zunächst, in die NSDAP einzutreten. Bei Beförderungen wurde er fortan übergangen und verblieb auf der Position eines Amtsrats. Auf Druck von Vorgesetzten trat er Ende 1939 schließlich in die NSDAP ein.1
Doch ein folgsamer Staatsdiener wollte Zarbock – mittlerweile über 50 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier erwachsener Söhne – bald nicht mehr sein. Im Juli 1941 begann er mit der Verbreitung von kurzen Texten, in denen er Adolf Hitler, die Minister der Reichsregierung sowie hohe Funktionäre der NSDAP und der SS beleidigte. Um seine Handschrift zu verbergen, riss er aus Büchern seiner privaten Bibliothek Seiten heraus, kreiste einzelne Buchstaben ein und verband diese mit Bleistiftstrichen, sodass sie die gewünschten Botschaften ergaben. Die Buchseiten steckte er in die Briefkästen verschiedener Institutionen wie Ämter, Banken und Bibliotheken. Die spätere Anklageschrift gegen ihn umfasste 33 dieser kurzen Texte, darunter „Der Hitler ist kein Heil, sondern ein Fluch.“2 (Briefkasten der Humboldt-Universität am 29. August 1941) oder „Himmler ist ein Verbrecher, ein Schwein ohne Gewissen und ohne Seele.“3 (Briefkasten des Postamtes in der Linkstraße am 4. November 1941). Zusätzlich schrieb Zarbock vier- oder achtzeilige Gedichte mit seiner Büroschreibmaschine auf Postkarten und Zettel. In den meisten Fällen waren diese Karten mit dem Text versehen, den Zarbock auch in seinem eigenen Bericht zitiert:
Herr H i t l e r führt Krieg gegen Juden,
Briten, Russen und Botokuden4…
„Der Führer“ kämpft gegen die ganze Welt –
Finden Sie, dass ER sich richtig verhält ??5
Zarbock setzte sich aktiv und unter großem persönlichem Risiko gegen das Regime ein, indem er seine Ablehnung der nationalsozialistischen Politik öffentlich machte und so versuchte, eine widerständige Bewegung, die er in der breiten Bevölkerung vermutete, ideell zu stärken. Tatsächlich begann er die systematische Verbreitung dieser Schriften zu einem Zeitpunkt, an dem der öffentliche Zuspruch zur nationalsozialistischen Kriegspolitik einen kurzlebigen, aber spürbaren Einbruch erlebte. Nach den schnellen Erfolgen des „Blitzkrieges“ gegen Polen und Frankreich sahen viele Deutsche den Angriff auf die Sowjetunion vom 22. Juni als strategischen Fehler.6 Neben dem allgemeinen Eindruck einer „kriegslüsternen“ Regierung erfuhr Zarbock durch seine Tätigkeit im Auswärtigen Amt zudem vermutlich von Vorgängen, die der breiten Bevölkerung zunächst verborgen blieben. So wurden hier auch die massenhaften Tötungen von Jüdinnen und Juden durch die Einsatzgruppen an der Ostfront registriert. Seine Bemerkung, „Herr Hitler führt Krieg gegen Juden“, ist demnach durchaus wörtlich zu verstehen.
Die Zahl der Buchseiten und Karten, die er zwischen Juli 1941 und Juni 1942 auf seinem Heimweg aus dem Ministerium in Briefkästen gesteckt hatte, bezifferte Zarbock nach dem Krieg mit 1.200 bis 1.500, das Berliner Sondergericht sprach allein mit Blick auf die Gedichte von einer „fast unzähligen Anzahl von Karten und Zetteln“ und einem „bisher kaum dagewesenen, außergewöhnlichen Umfang“7 der Schriftstücke. Unklar ist dabei, ob Zarbock allein handelte oder ob er sich im beruflichen Umfeld auf Kolleg:innen verlassen konnte, die seine Tätigkeit duldeten, deckten und sogar unterstützten. Ebenso bleibt offen, welche Schlüsse Zarbock aus seiner regimekritischen Einstellung für die Ausübung seiner eigentlichen beruflichen Tätigkeit zog, ob er etwa bewusst Arbeitsabläufe verlangsamte oder geheime Dokumente weitergab.
Ein politischer Prozess
Als Zarbock am 8. Juni 1942 eine seiner Postkarten in den Briefkasten des Postamtes an der Linkstraße am Potsdamer Bahnhof geworfen hatte, wurde er von der Gestapo verhaftet und anschließend in deren Hausgefängnis durch Kriminalkommissar Felix Bartoll verhört.8 In mehreren Verhören während seiner Untersuchungshaft gestand Zarbock seine Taten und beschrieb seine Arbeitsweise. Dabei konzentrierte er sich zunächst darauf, die Unzufriedenheit mit einzelnen Politikern als Motiv in den Mittelpunkt zu rücken. Seine Schriften seien vor allem „das Produkt eines Unmuts gegenüber diesen Persönlichkeiten“, er sei „mit der Beamtenpolitik der letzten Jahre nicht immer einverstanden gewesen.“ Darüber hinaus äußerte er aber auch einen allgemeinen „Unmut über die Zeitverhältnisse“ und kritisierte den Weltkrieg als großes Unglück.
Die Stellung Zarbocks als Beamter und Geheimnisträger verlieh dem Verfahren von Beginn an eine politische Brisanz; auch Justizminister Otto Thierack und NSDAP-Gauleiter und Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels schalteten sich in den Fall ein. Bereits früh war die Justiz daher um eine beschwichtigende Deutung bemüht. Der mit dem Fall befasste Staatsanwalt Albert Söntgen erklärte, Zarbock habe offensichtlich in einem psychischem Ausnahmezustand gehandelt. Andernfalls sei unerklärlich, „wie der bisher unbescholtene und im besten Ansehen stehende 57jährige Beschuldigte, der übrigens auch Parteigenosse sei, plötzlich in so auffallender Weise habe aus der Rolle fallen können.“9 Wenig überraschend erhielt Söntgen mit dieser Interpretation auch Zuspruch durch Zarbocks Vorgesetzten, Legationsrat Gustav Rödiger10, sowie seiner Ehefrau. Diese berichtete von Ohnmachtsanfällen ihres Mannes und war sich sicher, dass „die für ihn völlig persönlichkeitsfremde Tat nicht anders als durch einen vielleicht durch Arterienverkalkung hervorgerufenen geistigen Defekt erklärt werden könne.“11
In der Verhandlung, die am 30. Oktober 1942 vor dem Sondergericht I am Landgericht Berlin stattfand, argumentierte Zarbock in dieselbe Richtung. Er habe grundsätzlich „eine positive Einstellung zum Führer und zum heutigen Staate“ und seine Taten stünden „in unvereinbarem Widerspruch zu seiner sonst positiven Einstellung zum Nationalsozialismus. […] Wie der Angeklagte nun im einzelnen zu seinen Angriffen gekommen ist, will er sich heute auf wiederholtes Befragen durch das Gericht nicht erklären können. Er stehe nach wie vor vor einem Rätsel.“12 Als Begründungen für eine „zeitweilige geistige Störung seiner Geistestätigkeit“ nannte Zarbock Überarbeitung und Nervenzerrüttung, die Einnahme von Medikamenten wie Pervitin, den Frontdienst seiner beiden Söhne und eine daraus resultierende depressive Verstimmung.
So wenig plausibel diese Verteidigung auch war: Ein vorübergehender Verwirrungszustand, der Zarbocks eigentliche politische Überzeugung nicht in Zweifel stellte, war auch den Verantwortlichen eine willkommene Deutung, die sowohl seine Vorgesetzten im Auswärtigen Amt, aber auch die Berliner NSDAP vom Vorwurf befreite, einen Feind in den eigenen Reihen nicht erkannt zu haben. So erklären sich auch die medizinischen Gutachten zweier Sachverständiger, die auf Druck des Auswärtigen Amtes hin entstanden und Zarbock zubilligten, er sei „strafrechtlich vermindert zurechnungsfähig“.13 Auch das Gericht folgte dieser Linie und verurteilte ihn zwar wegen „fortgesetzter Zersetzung der Wehrkraft“14, allerdings in einem minderschweren Fall, weshalb ausnahmsweise keine Todesstrafe verhängt wurde. In seiner Urteilsbegründung führte das Gericht aus, dass Zarbock „nicht als Staatsfeind schlechthin zu betrachten ist.“15 Er habe sich zwar schwerer Verbrechen schuldig gemacht, aber „an sich sonst keine staatsfeindliche Einstellung gehabt“16, wie auch an seiner NSDAP-Mitgliedschaft und der Offizierskarriere seiner Söhne erkennbar sei.
Zur Verbüßung seiner fünfjährigen Haftstrafe wurde Zarbock am 3. Dezember 1942 in das Gefängnis Brandenburg-Görden überstellt. Die größte Haftanstalt Deutschlands war in hohem Maße überbelegt, die Versorgungslage katastrophal, während die Häftlinge zur Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion gezwungen wurden. Nach seiner Befreiung im April 1945 war Zarbock in verschiedenen Berliner Ämtern für die Versorgung der Opfer des NS-Regimes zuständig. Im Frühjahr 1949 wurde er mit einer offenen Lungentuberkulose ins Krankenhaus eingeliefert, die bereits 1946 erstmals entdeckt worden war. Noch aus dem Krankenbett korrespondierte er mit der Berliner Staatsanwaltschaft, damit seine Verurteilung wegen „Wehrkraftzersetzung“ aufgehoben wurde; im März 1949 gab das Amtsgericht Berlin-Lichterfelde seinem Antrag statt. Wenige Woche später starb Paul Zarbock im Alter von 63 Jahren an den Folgen seiner Gefängnishaft.17
Zarbocks Bericht als Identitätsprojektion
Einer der Oppositionellen, mit denen Zarbock in Brandenburg gemeinsam inhaftiert war, war der Verleger und Publizist Walter Hösterey, der nach Kriegsende unter dem Pseudonym Walter Hammer eine Sammlung von Gefängnisakten, Widerstands- und Verfolgungsberichten aufbaute.18 Mit öffentlichen Aufrufen oder durch persönliche Ansprache forderte er ehemalige Inhaftierte auf, ihre politische Arbeit und Verfolgung im Nationalsozialismus zu dokumentieren. Auch Paul Zarbock steuerte einen knappen Bericht zu diesem Archiv bei.19 Hierin schilderte er seine Tätigkeit in ironischem Tonfall und mit Zitaten aus dem Vokabular des NS-Rechts, aber mit großer Genauigkeit. So listet er ausführlich die öffentlichen Stellen und Postämter auf, denen er seine Schriften zusandte.
Seine Bedeutung als historische Quelle erhält der Bericht jedoch nicht durch seinen Informationsgehalt, sondern durch den Deutungsrahmen, in den Zarbock seine Taten rückblickend stellte. So schien es ihm offenbar besonders wichtig, die politischen Motive seiner Widerstandsarbeit herauszustreichen – bereits der Titel „Wie ich den Hitlerismus bekämpfte“ macht diesen Fokus klar. Während er sich selbst im Strafprozess zunächst auf eine Unzufriedenheit mit einzelnen Persönlichkeiten zurückgezogen und dann auf seine geistige Verfassung verwiesen hatte, schildert er nun eine entschiedene Ablehnung des Regimes und seine Überzeugung, den „verhängnisvollen Massenwahn, der wie eine Epidemie um sich griff, auch mit wirksamen Mittel entgegen[zu]treten.“20 Zarbock, der offenkundig allein agierte, verortete sich dabei klar im Zusammenhang einer breiteren, „Widerstandsbewegung gegen den Hitlerfaschismus“.21 Sein eigener Bericht diente so als Korrektiv für das Schriftgut der NS-Justiz und der Gestapo, die den Beamten als geistig verwirrten Frustrationstäter hingestellt und ihm alle politischen Beweggründe abgesprochen hatten.
Für Zarbock erfüllte der kurze Text aber zugleich auch den Zweck, seine eigene Biografie im Nationalsozialismus zu vereindeutigen, die zwischen regimetreuem Beamten, NSDAP-Mitläufer, Widerständler und Verfolgungsopfer changiert hatte. So ist durchaus bemerkenswert, worauf er nicht einging: Zarbocks langjährige Tätigkeit für das Auswärtige Amt, das in die deutschen Verbrechen eng involviert war, blieb außen vor. Und obwohl er in der Gefängnishaft schwer gelitten hatte, in der Nachkriegszeit für eine Entschädigung stritt und sogar in der NS-Opferfürsorge tätig war, nehmen auch Verurteilung und Haft in seinem Bericht kaum Raum ein. Nur mit einem abschließenden Verweis auf „Kriminalkommissar Bartoll von der Gestapo“22 deutete Zarbock die strafrechtlichen Konsequenzen seiner Taten an. Damit verdeutlicht der Bericht auch die Funktion von retrospektiv angelegten Selbstzeugnissen als Werkzeug zur Konstruktion eines schlüssigen und positiven Selbstbildes, welches sich an persönlichen Idealen und – gerade über politische Zäsuren hinweg – an den veränderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen orientiert. Zumindest in der selbstbestimmten Beschreibung seiner Taten wollte Paul Zarbock weder Mitläufer noch Opfer des Regimes sein, sondern allein das, was er in den Augen der NS-Justiz nicht gewesen war – ein Staatsfeind.23
Referenzen
- Die Angaben zu Zarbocks Berufsbiografie entstammen seiner Personalakte, vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, P/017081.
- Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch), R 3001 Reichsjustizministerium, Nr. 142536, Anklageschrift gegen Paul Zarbock vor dem Sondergericht beim Landgericht Berlin (Abschrift), 26.08.1942, Bl. 16.
- Ebd., Bl. 17.
- Historischer Name für verschiedene indigene Völker Brasiliens, der auch als Schimpfwort für „unzivilisierte“ Menschen gebraucht wurde. Zarbock wählte den Begriff hier wohl im Sinne von „alles und jeden“.
- Dieser Text wird nicht nur in seinem eigenen Bericht, sondern auch in der Anklageschrift zitiert, BArch, R 3001 Reichsjustizministerium, Nr. 142536, Anklageschrift gegen Paul Zarbock vor dem Sondergericht beim Landgericht Berlin (Abschrift), 26.08.1942, Bl. 19.
- Nicholas Stargardt: Der deutsche Krieg 1939–1945, Frankfurt a. M. 2015, S. 201.
- BArch, R 3001 Reichsjustizministerium, Nr. 142536, Beschluss des Sondergerichts beim Landgericht Berlin, 30.10.42, Bl. 39.
- Felix Bartoll, seit 1931 Mitglied in NSDAP und SS, war u. a. ab 1942 in der Berliner Gestapozentrale für die Verhöre von Widerstandskämpfer:innen zuständig und gehörte später einer Sonderkommission an, die die Hintermänner des Attentats vom 20. Juli 1944 aufspüren sollte. Vgl. Horst Sassin: Widerstand, Verfolgung und Emigration Liberaler 1933–1945, Bonn 1983, S. 488, Anm. 22.
- BArch, R 3001 Reichsjustizministerium, Nr. 142536, Aktenvermerk, 11.07.1942, Bl. 4.
- Rödiger versuchte selbst, Distanz zum Regime zu behalten und verweigerte sich stets einer NSDAP-Mitgliedschaft. Er blieb von 1933 bis 1945 in derselben Position als Referatsleiter in der Rechtsabteilung, vgl. Eckart Conze [u. a.]: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 159.
- BArch, R 3001 Reichsjustizministerium, Nr. 142536, Aktenvermerk, 11.07.1942, Bl. 4.
- BArch, R 3001 Reichsjustizministerium, Nr. 142536, Beschluss des Sondergerichts beim Landgericht Berlin, 30.10.42, Bl. 48.
- Ebd., Bl. 53.
- Ebd., Bl. 30.
- Ebd., Bl. 53.
- Ebd.
- Zarbocks Nachkriegsbiografie ist umfassend dokumentiert in den Unterlagen des Entschädigungsamtes Berlin, Akte Nr. 3478.
- Das Walter-Hammer-Archiv befindet sich heute als Bestand ED 106 im Institut für Zeitgeschichte in München und ist dort komplett digital zugänglich.
- Zarbock und Hammer könnten durch die gemeinsame Haftzeit durchaus in persönlichem Kontakt gestanden haben. Andere Berichte in der gleichen Akte wurden jedoch ursprünglich an den Berliner Hauptausschuss für die Opfer des Faschismus gesandt, einer 1945 gegründeten Interessenvertretung für ehemals Verfolgte, und erst später an Hammer weitergegeben. Da das Begleitschreiben nicht überliefert ist, sind sowohl der Entstehungszeitpunkt als auch die Überlieferungsgeschichte des Berichts unklar.
- Institut für Zeitgeschichte München – Archiv (IfZ), ED 106, 104, Paul Zarbock: Wie ich den Hitlerismus bekämpfte, o. D. Bl. 99.
- Ebd.
- IfZ, ED 106, 104, Paul Zarbock: Wie ich den Hitlerismus bekämpfte, o. D. Bl. 99.
- Das Berliner Entschädigungsamt folgte dieser Darstellung 1955, als es trotz Zarbocks NSDAP-Mitgliedschaft seiner Witwe Magdalena ausnahmsweise eine Entschädigung und Witwenrente zubilligte. Zuvor hatten zahlreiche inhaftierte Oppositionelle Zarbocks regimekritische Gesinnung bezeugt. Ein Jahr später erreichte Magdalena Zarbock an Stelle ihres verstorbenen Ehemannes die offizielle Anerkennung als Opfer des NS-Regimes, vgl. Entschädigungsamt Berlin, 3478, Sozialbehörde an M. Zarbock, 2.10.1956, Bl. 44.