Am 18. Januar 1945 porträtierte der französische Häftling Camille Delétang im Buchenwalder Außenkommando „Hecht” bei Holzen den polnischen Widerstandskämpfer und Komponisten Kazimierz Tymiński.1 Beide waren zuvor im Hauptlager Buchenwald inhaftiert, wo Tymiński ein künstlerisches Album anlegte, in dem er Lieder, Gedichte und Bilder seiner Mitgefangenen sammelte.2
Dieses Porträt zeigt Tymiński im Profil, mit leicht in den Nacken gelegten Kopf, der auf einem angedeuteten Tuch zu ruhen scheint. Unterhalb von Hals und Schulter verlieren sich die Striche. Das Gesicht ist bis kurz unter die Augen und die freibleibende Nase mit einer dicken Schaumschicht bedeckt. Im Mund steckt eine halb abgebrannte rauchende Zigarette. Die umschatteten Augen sind entspannt geschlossen. Seine Frisur ist mit dem Bleistift grau, kurz und borstig dargestellt. Beinah erinnert sie an einen schützenden Helm. Unter seiner angedeuteten blau-weiß gestreiften Häftlingsjacke lugt ein blau karierter Hemdskragen hervor. Das Bild zeigt Genuss, Entspannung und Luxus, was im Kontrast zu der Häftlingsjacke und dem bekannten Lagerkontext irritiert.
Sperrige Artefakte zwischen Widerstandsmythos und Illustration
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges tendieren Forscher:innen und Gedächtnisinstitutionen dazu, in der Verwunderung über die Existenz dieser Bilder aus Lagern zu verharren und sie auf ihren Ausdruck geistigen Widerstands zu reduzieren: Sich gegen die Verbote der SS durchsetzend, fertigte Camille Delétang dieses Porträt an, würdigte damit seinen Freund und bewahrte seine Individualität inmitten der Anonymität der Lager. Eine solche Interpretation zieht oft eine politische Instrumentalisierung nach sich. Die Honorierung jeden Ausdrucks von Kreativität als Beitrag zur Bewahrung der Menschlichkeit wertet jene, die künstlerisch tätig waren, gegenüber den anderen Häftlingen auf. In Buchenwald hatten vor allem politische Gefangene mit einem antifaschistischen Hintergrund (wie Delétang und Tyminski) aufgrund ihrer Position in der Häftlingsgesellschaft Zugang zu nötigen Materialien. Das ist jedoch nicht auf ihre moralische Überlegenheit, sondern auf ihre Position in der Lagergesellschaft zurückzuführen. Diese Position beeinflusste die Bilder ebenso wie der Hintergrund der Künstler.
Noch heute werden Bilder aus Lagern oft lediglich als Illustration oder Dokumentation verwendet. Doch die Objekte sperren sich dagegen. Insbesondere dieses Porträt geht über ein simples „So war es“ hinaus. Missverstanden als Illustration des Lagerlebens, suggeriert es einen Luxus, der die Realität der absoluten Mehrheit der Häftlinge nicht repräsentiert, die Zustände sogar verharmlosen könnte. Während sowohl die dokumentarischen als auch die widerständigen Aspekte in diesen Werken durchaus vorhanden sind, ist es mein Anliegen zu zeigen, dass ihre Bedeutung weit darüber hinaus geht.
Bilder als Zeugnisse?
Der Großteil der Zeichnungen von Delétang wurde durch einen spektakulären Dachboden-Fund in Celle wiederentdeckt und im Sommer 2012 der Gedenkstätte Mittelbau-Dora übergeben.3 Im daraus hervorgegangenen Ausstellungsprojekt und ‑katalog wurden die Zeichnungen als „Zeugnisse aus dem Konzentrationslager Holzen“ betitelt. Diese sperrigen Artefakte als Teil der vielfältigen Zeugenschaft der Konzentrationslager zu rahmen, ist nicht ungewöhnlich.4
Die prekären Produktionsbedingungen, die meist knappe Zeit und die begrenzt zur Verfügung stehenden Materialien erlauben es kaum, die in NS-Lagern entstandenen Werke als autonome Kunst zu beschreiben. Dazu kommt, dass es sich bei den Urheber:innen zwar zum Teil um ausgebildete Künstler:innen handelt, aber auch Kinder oder Laien wie Camille Delétang unter ihnen waren. Der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann erklärte Delétangs „sichtbares Bemühen um Genauigkeit und Ähnlichkeit zu einem besonderen Merkmal“.5 Nach Hoffmann zeigt sich aber auch genau daran, dass der Häftling kein ausgebildeter Künstler war: „[E]in professioneller Künstler, ausgebildet an einer Akademie, vielleicht sogar bei unterschiedlichen Lehrern, verfügt über ein größeres Reservoir an Techniken. Für ihn ist die Ähnlichkeit nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung einer gelungenen Zeichnung.“6
Diese Bilder als Zeugnisse zu bezeichnen, betont, dass es um Visualisierungen von Erfahrungen – nicht um die ästhetische Qualität – geht. Doch welche Erfahrungen bezeugen sie? Mein Ziel ist es, diese Bilder als visuelle Deutungen der Lagerrealität ernst zu nehmen und einen Ansatz zur Erforschung von Bildzeugnissen aus Konzentrationslagern zu entwickeln, der kunsthistorisch aber auch historisch und soziologisch informiert ist.
Zum Erkenntnispotenzial von Bildzeugnissen der Lagergesellschaften
Was bezeugt das Bild des genussvoll rauchenden Häftlings Tymiński beim Barbier im KZ? In welchem Verhältnis steht es zu unserem historischen Wissen über die Lager? Was können wir durch eine Analyse des Bildes über die Lagergesellschaft lernen?
Mit der Bart-Rasur stellte Delétang einen äußerst intimen Moment dar und zugleich eine alltägliche Praxis. Rasur im KZ weckt Assoziationen an die entwürdigende Ganzkörperrasur, die Häftlinge nach Ankunft im Lager über sich ergehen lassen mussten. Diese Prozedur war neben einer Hygienemaßnahme der Lagerverwaltung, Folter- und Disziplinierungsinstrument und für die Häftlinge weder alltäglich noch ein Genuss. Die Ganzkörperrasur wurde ausgesprochen oft visuell dargestellt und verarbeitet. Wenige Bilder zeigen dagegen individuelle Bartrasuren, obwohl es in Buchenwald Pflicht war, sich zu rasieren.7 Der aus Leipzig stammende jüdische Häftling Rolf Kralovitz arbeitete in Buchenwald zeitweise als Friseur und berichtete „nicht alle konnten zum Barbier, zum Blockfriseur”.8 Die dargestellte Szene muss daher als Ausdruck von Tymińskis privilegierter Stellung in der Kleiderkammer des Außenlagers begriffen werden.9 Die Rasur steht darüber hinaus für das Aufrechterhalten von Körperpflege und Ordnung im Chaos des Lageralltags. Die Zigarette unterstreicht diese Deutung: Tabak war in den KZs eine rare Währung, deren Genuss die Ausnahme darstellte.10
Die kunsthistorische Bedeutung der Zigarette weist noch darüber hinaus. Der Laien-Künstler Delétang stellte den ebenfalls nicht als Künstler ausgebildeten Tymiński mit Attributen dar, die traditionell in Künstlerporträts zu finden sind. Sie schienen ihm das Wesen seines Freundes angemessen zu repräsentieren. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert tauchen Zigaretten rauchende Künstler oft in Bildnissen auf, um ihre Zugehörigkeit zur dekadenten Bohemian Kultur auszudrücken. Die Faszination für Krankheit, Tod, Sucht und Exzess tritt hier ins Bild. Die Zigarette vermittelt eine Spannung zwischen Potenz und Morbidität, sie ist zugleich Laster und Symbol für Kreativität. Im Gegensatz zur Pfeife oder Zigarre wird die Zigarette seit den 1880er Jahren mit der Arbeiterklasse – den sozial Schwächeren – assoziiert.11 Das entspricht dem Selbstbild von Tymiński, der im Lager als Widerstandskämpfer in der Polnischen Arbeiterpartei aktiv war.12
Delétang fertigte mindestens 190 Zeichnungen während seiner Haft an, darunter zahlreiche Porträts von Mitgefangenen, die überwiegend in Holzen entstanden. Dennoch überrascht, dass er nicht eins, sondern mindestens vier Porträts von Tymiński zeichnete.13 All diese Porträts betonen Tymińskis Künstlerstatus auf je unterschiedliche Weise, was nahelegt, auch die Rasur-Szene in diesem Kontext zu deuten und nicht ausschließlich als Genreszene, in der rein zufällig ein Künstler abgebildet ist. Auch wenn Delétang kaum mit der Bildtradition rauchender Künstler vertraut gewesen sein wird, wählte er dieses Attribut, um seinen Freund darzustellen. Der Komponist Tymiński hatte eine privilegierte Stellung im Außenlager Holzen. Als einer der Vorsitzenden der polnischen Widerstandsorganisation pendelte er zwischen Holzen und dem Stammlager Buchenwald hin- und her. Die rauchende Zigarette in der Rasur-Szene ist ein mehrdeutiges Attribut, mit dem diese Stellung in der Häftlingshierarchie kommentiert wird.
Wie die Analyse dieses Blattes zeigt, steht seine Entstehung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Buchenwalder Widerstandsnetzwerk und durch eine quellenkritische Analyse der Zeichnung lassen sich Deutungen der Lagerrealität destillieren. Diese beziehen sich jedoch nicht (ausschließlich) auf die mimetische Abbildung der Umwelt, sondern betreffen, wie gezeigt wurde, die sozialen Dynamiken zwischen den Häftlingen. Diese Dynamiken werden mit Hilfe ikonographischer Bildmittel und kulturhistorischer Traditionen mal bewusst, mal unbewusst interpretiert. Visuelle Zeugnisse von KZ-Häftlingen in dem sozialen Rahmen zu untersuchen, in dem sie entstanden und den sie darstellen, birgt ein bislang ungenutztes Potenzial. Mit den Bildzeugnissen aus Konzentrationslagern stehen uns faszinierende Selbstzeugnisse als reichhaltige Quellen der Lagergesellschaften zur Verfügung, die es weiter zu erforschen gilt.14
Referenzen
- Camille Delétang: Porträt von Kazimierz Tymiński, Państwowe Muzeum Oświęcim-Brzezinka, PMO-I‑2–1298/37. Ich danke Catherine Grandjean für die Erlaubnis das Bild zu publizieren.
- Vgl. Christine Oeser, Die Musikalien im Künstlerischen Album von Kazimierz Tymiński. Ein Spiegel der kulturellen Tätigkeit im Konzentrationslager Buchenwald?, Masterarbeit, Osnabrück 2013; Kazimierz Tymiński, To Calm my Dreams. Surviving Auschwitz, Sydney 2011 [1985].
- Vgl. Jens-Christian Wagner (Hrsg.), Wiederentdeckt. Zeugnisse aus dem Konzentrationslager Holzen, Göttingen 2013.
- Vgl. z.B. Christiane Heß, Eingezeichnet. Zeichnungen und Zeitzeugenschaft aus Ravensbrück und Neuengamme, Berlin 2024; Detlef Hoffmann, Bild oder Reliquie. Bildnerische Zeugnisse aus den Lagern, in: Dagi Knellessen, Ralf Possekel (Hrsg.), Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS-Verfolgten, Berlin 2015, S. 175–192; Maike Bruhns, „Die Zeichnung überlebt…“. Bildzeugnisse von Häftlingen des KZ Neuengamme, Bremen 2007; Irit Salmon-Livne, Ilana Guri (Hrsg.), Testimony: Art of the Holocaust, Jerusalem 1982.
- Vgl. Detlef Hoffmann, Porträtzeichnungen aus Konzentrationslagern, in: Wagner (Hrsg.), Wiederentdeckt, S. 198–212, hier S. 207.
- Ebd., S. 203.
- Vgl. Ronald Hirte, Über Spiegel in Konzentrationslagern, in: Gedenkstättenrundbrief 125 (2003), S. 18–24, hier S. 20.
- Kralovitz, zit.n. ebd. Vgl. Noah Benninga, The Bricolage of Death. Jewish Possessions and the Fashioning of the Prisoner Elite in Auschwitz-Birkenau, 1942–1945, in: Leora Auslander, Tara Zahra (Hrsg.), Objects of War. The Material Culture of Conflict and Displacement, Ithaca u. a. 2018, S. 189–220, hier S. 213.
- Kazimierz Tymiński, Meine Arbeit in der PPR während der Besatzungszeit, 3.4.1966, PMO Abteilung Dokumentenarchiv, Übersetzung von Dieter Rudolf, Kopie in Buchenwald Kunstsammlung, F, Bd. 5, S. 2 von 6.
- José Fosty berichtete über seine Begegnungen mit René Salme und Paul Goyard im Lager: „Bei schönem Wetter trafen wir uns auf den Straßen, wo wir auf und ab gingen, oder wir saßen am Straßenrand und zogen reihum an einem erlösenden Zigarettenstummel,“ José Fosty, Paul Goyard oder eine kleine Geschichte von einer großen Freundschaft, in: Volkhard Knigge (Hrsg.), Paul Goyard. 100 Zeichnungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald, Göttingen 2002, S. 37–46, hier S. 37.
- Vgl. Patricia G. Berman: Edvard Munch’s Self-Portrait with Cigarette. Smoking and the Bohemian Persona, in: The Art Bulletin 75 (1993), S. 627–646, hier S. 627; S. 631–633.
- Tymiński, Bericht 1966, PMO, S. 2.
- Die Porträts von Tymiński verblieben nicht bei dem Künstler, sondern bei dem Porträtierten, der sie in einem Album mit insgesamt 40 Zeichnungen von Delétang dem Staatlichen Museum Auschwitz übergab.
- Interdisziplinäre Ansätze zu einer Erforschung der Lagergesellschaften entwickelten jüngst Michael Becker, Dennis Bock, Elissa Mailänder: Konzentrationslager als Gesellschaften. Einleitende Überlegungen und interdisziplinäre Perspektiven, in: dies. (Hrsg.), Konzentrationslager als Gesellschaften. Interdisziplinäre Perspektiven, Göttingen 2023, S. 7–26.