Die etwa 140 x 20 Centimeter große Wandinschrift besteht aus vier graphisch abgegrenzten Elementen, die auf einer Wand in der Sammelzelle eines ehemaligen Polizeigefängnisses in etwa 3 Meter Höhe angebracht sind. Untergrund ist ein glatter gelblicher Wandanstrich, geschrieben wurde wahrscheinlich mit einem starken Bleistift, vielleicht auch einem schwarzen Kugelschreiber. Die Linien sind zur Verstärkung mit mehreren Strichen nachgezogen. Im Zentrum steht der handschriftlich in Majuskeln (Großbuchstaben) verfasste französischsprachige Text:
„Chers [sic!] freres du courage / La vie est un combat / Dans la vie, ce n‘est pas comme dans les echecs / La partie continue apres echec et mat (Le Togolais) 22–10/3–11-92“ („Liebe Brüder des Mutes. Das Leben ist ein Kampf. Im Leben ist es nicht wie beim Schach. Die Partie geht nach Schach und Matt weiter. Der Togolese, 22.10.–03.11.1992“)
Links neben dem Wort „Dans“ in der dritten Zeile klebt ein orangener Papierpunkt mit der Nummer 740, welcher im Zuge der Übersetzung der Inschrift angebracht wurde. Gerahmt wird dieser Text von zwei gezeichneten Flugzeugen. Das linke trägt auf dem Flugzeugbauch die Aufschrift „Hitlair“ in Majuskeln, in das Flugzeugheck wurden die geographischen Bezeichnungen „Africa, Roumania, India, Türkei“ eingetragen. Das rechte Flugzeug ist analog gezeichnet, der Rumpf trägt hier die Bezeichnung „AbSCHIEbUNG AIR“ und der Heckflügel die geographischen Bezeichnungen „Africa, India, Turkie, Roumania, Sud-Amer, Italia, Polen China“. Die ersten fünf Ortsnamen sind gleichmäßig über den Heckflügel angeordnet und in der gleichen Schrift verfasst wie der übrige Text. Die Angaben „Polen“ und „China“ sind jedoch in kleineren und stärker kursiven Majuskeln geschrieben, die außerdem blasser sind als die restliche Schrift. Dies deutet darauf hin, dass ein anderer Autor die Angaben später ergänzt hat. Von ganz rechts neben dem rechten Flugzeug zeigt eine durch Hakenkreuz und „Hitler“-Aufschrift unmissverständlich gekennzeichnete Karikatur mit waagerecht parallel zum Boden ausgestrecktem rechten Arm und Finger (wodurch der Zeichner wahrscheinlich einen „Hitlergruß“ repräsentieren will) auf das Flugzeug und sagt in einer Sprechblase „Good Kinder, Helmut Koll“. Die Figur besteht aus Rumpf, Kopf (mit schematisch gezeichneten Augen, Mund und Nase sowie Schnurrbart und Ohren) und zwei Armen. Der Rumpf trägt außerdem eine weitere, nicht vollständig entzifferbare Beschriftung in kyrillischen Buchstaben. Der erkennbare Schriftteil ist eine im Russischen gängige und hier ebenfalls gegen Deutsche gerichtete vulgäre Beschimpfung unter Bezugnahme auf das männliche Geschlechtsteil („ХУЙ… НЕМЦЫ“). Die Schrift wirkt identisch mit der nebenstehenden Inschrift „Червоноград“ (Tscherwonograd), einer ukrainischen Stadt, was darauf hindeutet, dass hier ein ukrainischer Insasse die entsprechenden Ergänzungen vorgenommen hat.
Das ehemalige Polizeigefängnis in der Klapperfeldstraße in Frankfurt am Main
1886 wurde das Polizeigefängnis in der Klapperfeldstraße in der Innenstadt des damals preußischen Frankfurts am Main (kurz „Klapperfeld“) erbaut. Unweit der Konstablerwache, einem zentralen Verkehrsknotenpunkt, gelegen, bildete es zunächst eine bauliche Einheit mit dem damaligen Polizeipräsidium. Dieses wurde bereits 1914 an den Platz der Republik, unweit des Hauptbahnhofs, verlegt, das Polizeigewahrsam Klapperfeld wurde jedoch als solches bis 2002 weiter genutzt, in den 1990er Jahren verstärkt auch zur Durchführung von Abschiebungshaft. Es war nicht nur zu preußischen Zeiten ein integraler Bestandteil der Frankfurter Geschichte, sondern auch zur Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik und trägt die Spuren der verschiedenen Formen von Repression, Ausgrenzung und Verfolgung von über 100 Jahren deutscher Geschichte.1
2009 bot die Stadt Frankfurt das nunmehr seit sieben Jahren leerstehende Gebäude einer Gruppe von Besetzer:innen namens „Faites Votre Jeu!“ als Alternativobjekt an.2 Nach intensiven Diskussionen beschloss die Gruppe, das Angebot anzunehmen und die Lokalität als Chance zu nutzen, um sich mit der Geschichte des Hauses auseinanderzusetzen. Priorität hatten dabei zunächst Recherchen zur Rolle des Klapperfelds im Nationalsozialismus, welche 2015 in einer Dauerausstellung mündeten.3
Die 47 Einzel- und zehn Sammelzellen im Haus sind übersät mit Inschriften von Inhaftierten, die auf Wänden, Türen, Fensterrahmen, Klapptischen- und Stühlen angebracht wurden. Überwiegend stammen diese aus der Zeit nach 1945. Nicht alle blieben erhalten, schließlich sollte das Gebäude als Kulturzentrum und Veranstaltungsort genutzt werden. Dafür wurden die unwirtlichen Zellen und Gefängnisräume renoviert und instandgesetzt. Doch einige Teile des Hauses wurden auch im Originalzustand belassen, u. a. der als Männertrakt konzipierte Teil der zweiten Etage.
Das ehemalige Polizeigefängnis wird seit dem als Kulturzentrum genutzt, Schulklassen und andere Gruppen werden im Rahmen von begleiteten Rundgängen nicht nur durch die Ausstellung, sondern auch in den zweiten Stock geführt. Immer wieder übersetzten Besucher:innen spontan die ein oder andere Inschrift, erkennen insbesondere die in großen Lettern verewigten Städte und Ortsnamen wieder. Doch während die Inschriften die Atmosphäre des Zellentrakts prägten, blieb ihr Inhalt für die Besucher:innen zunächst weitestgehend ein Geheimnis, vor allem aufgrund der Vielzahl verschiedener Sprachen und Schriftarten, in denen sie verfasst sind.
2013 traf sich zum ersten Mal eine kleine Gruppe Freiwilliger mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen, um einige der Inschriften zu entschlüsseln. Im Verlaufe von etwa zwei Jahren Übersetzungs- und Dokumentationsarbeit kamen etwa 1.500 Übersetzungen zusammen, die in Exceltabellen übertragen wurden. Anspruch der Arbeit, die ausschließlich von Freiwilligen und nicht professionellen Übersetzer:innen geleistet wird, war jedoch nie der einer vollständigen Dokumentation. Mindestens noch einmal so viele Inschriften sind allein im zweiten Stockwerk weiterhin unübersetzt.
Im Januar 2015 eröffnete eine Ausstellung, deren wichtigstes Ziel die Zugänglichmachung des Gefängnistrakts mit seinen (14 Einzel-) und zwei Sammelzellen ist. Sie soll Besucher:innen erlauben, sich selbst mit den Zuständen in einem deutschen Abschiebegefängnis vertraut zu machen. In jeder Gefängniszelle stehen Hefte mit den Übersetzungen zur Verfügung, die es den Besucher:innen erlauben, mit Hilfe der angebrachten Nummern den Inhalt von Inschriften nachzuschlagen.
Inschrift 740
Die hier vorgestellte Inschrift wurde in Sammelzelle Nummer 71 hinterlassen, in etwa drei Metern Höhe, knapp unter der Decke. Anders als andere der weit über 1.000 Inschriften, die teilweise nur bei nächster Betrachtung der mit Inschriften übersäten Flächen entdeckt und entziffert werden können, fallen die großen Flugzeuge schon beim Betreten des Raums ins Auge. Der Autor hat seine Inschrift nicht namentlich unterzeichnet, sondern verwendet das Pseudonym „Le Togolais“, „der Togolese“, was wohl einen Hinweis auf seine Herkunft oder Staatsbürgerschaft geben soll. In der benachbarten Sammelzelle Nummer 70 finden sich noch zwei weitere Inschriften mit dem gleichen Pseudonym vom 25. Oktober 1992, die sich so dem gleichen Autor zuordnen lassen. Der angegebene Zeitraum (22. Oktober bis 3. November 1992) legt nahe, dass der Verfasser hier zwei Wochen inhaftiert war und dass er die Inschrift zu einem Zeitpunkt verfasste, als sein Entlassungsdatum und damit seine Abschiebung bereits feststand. Es ist also wahrscheinlich, dass die Inschrift am 3. November 1992 selbst verfasst wurde. Im Klapperfeld wurden in diesem Zeitraum nicht ausschließlich Abschiebegefangene inhaftiert, sondern auch weiterhin andere Ingewahrsamnahmen durchgeführt. Die Zeichnung der Flugzeuge und deren Beschriftung mit „Air Abschiebung“ legen jedoch nahe, dass sich auch der Autor in Abschiebungshaft befand und wie viele andere Gefangene vom Frankfurter Flughafen aus abgeschoben wurde. Die auf den Flugzeughecks aufgeführten Länder und Kontinente geben möglicherweise Aufschluss über die Herkunftsländer von Mitgefangenen – aber es ist genauso gut möglich, dass der Autor hier Beobachtungen von außerhalb des Klapperfelds hat einfließen lassen.
Mit der Flugzeugbeschriftung „Hitlair“ und der Hitler-Karikatur behauptet er eine Kontinuität zwischen der nationalsozialistischen Politik und der Abschiebepraxis der Bundesrepublik. Der regierende Bundeskanzler Helmut Kohl wird als Erbe Hitlers dargestellt, der in dessen Sinne agiert. Das Klapperfeld verkörpert als Ort der Repression diese Kontinuität: Wo fünfzig Jahre vor dem togolesischen Autor Juden:Jüdinnen, Kommunist:innen, Christ:innen, Zeug:innen Jehovas und andere Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung inhaftiert und verhört wurden wurden wenige Jahrzehnte später Menschen inhaftiert, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und gezwungen werden, Deutschland zu verlassen.
Viele der Inschriften, die im zweiten Stock übersetzt und dokumentiert wurden, machen in unterschiedlicher stilistischer Tonalität ihrem Ärger über die Behandlung durch den deutschen Staat oder „die Deutschen“ im Allgemeinen mit Hilfe von Nazi-Vergleichen Luft.
Graffiti als Visitenkarte
Das hier vorgestellte Übersetzungsprojekt war mit der Erwartung gestartet, vor allem Informationen zum Haftalltag und den Hintergründen von Gefangenen zu erhalten. Es wurde jedoch schnell klar, dass nur wenige Inschriften explizit etwas über die Haftbedingungen aussagen und sich erst aus dem Gesamtbild einer größeren Anzahl von übersetzten Inschriften vorsichtige Erkenntnisse über Inhaftierte und deren Biographien ableiten lassen.4 Dennoch lassen sich einige „Typen“ von Inschriften identifizieren und gruppieren:
Die häufigste Ausdrucksform ist eine Art Visitenkarte, die die Insass:innen am letzten Tag ihrer Haft hinterließen. Sie enthält üblicherweise den Namen der Inhaftierten, den Zeitraum der Haft und einen Herkunftsort. Insgesamt 74 Länder werden in den bisher übersetzten Inschriften explizit oder implizit genannt. Der mit 139 Mal mit Abstand am häufigsten erwähnte Staat ist die Republik Moldau, gefolgt von Polen (87), Rumänien (85) und der Türkei (74). Neben den „Visitenkarten“ geben auch selbstgezeichnete Kalender Auskunft über die Haftdauern in den Zellen. Andere zählten ihre Tage anhand von Zigarettenpunkten. So kann festgestellt werden, dass viele Personen wie „der Togolese“ 14 Tage lang im Klapperfeld inhaftiert waren. Andere „Typen“ von Inschriften sind Gebete und Glaubensbekenntnisse, national(istisch)e Symbole, Liebesbriefe und Witze. Letztere machen deutlich, dass die Inschriften als Primärquellen erstgenommen werden müssen, die aus den individuellen Intentionen der Schreibenden gewachsen sind.
References
- Wolfgang Breckheimer, Von den Nazis verfolgt. Ein Zeitzeuge berichtet. Offenbach 2004; Klaus Otto Nass (Hg.), Elsie Kühn-Leitz. Mut zur Menschlichkeit. Vom Wirken einer Frau in ihrer Zeit. Dokumente, Briefe und Berichte, 1994; Lotte Schmidt, Johanna Kirchner in den Fängen der Faschisten. In: DGB Bildungswerk Hessen/ Studienkreis zur Erforschung und Vermittlung des deutschen Widerstandes 1933–1945 (Hg.). Berichte, Bearbeitung und Redaktion: Axel Ulrich: Hessische Gewerkschafter im Widerstand 1933–1945. Gießen 1993, S.269–270; Max Oppenheimer, Das kämpferische Leben der Johanna Kirchner. Porträt einer antifaschistischen Widerstandskämpferin. Frankfurt 1974; Kurt Kraus, Das Frankfurter Polizeigewahrsam – Ein Relikt aus wilhelminischer Zeit, in: Arne Winkelmann und Yorck Förster (Hrsg.): Gewahrsam. Räume der Überwachung, Deutsches Archiktekturmuseum (Katalog zur Ausstellung im Klapperfeld), Frankfurt 2007, S. 8–13.
- Weitere Informationen auf der Website der Initiative: https://www.faitesvotrejeu.org/ (abgerufen am 17.01.2025).
- Details zur Dauerausstellung sind auf der Website des Klapperfeld zu finden: https://klapperfeld.de/dauerausstellungen (abgerufen am 17.01.2025); Saskia Helbling und Katharina Rhein, Faites votre jeu! Hausbesetzer_innen im ehemaligen Knast. Geschichte und Gegenwart eines Gefängnisses, das keines mehr ist, in: AutorInnenkollektiv Loukanikos (Hrsg.), History is unwritten. Linke Geschichtspolitik und kritische Wissenschaft. Ein Lesebuch, Münster 2015, S. 189–201, https://www.edition-assemblage.de/wp-content/uploads/History-is-unwirtten_online_i1.pdf (abgerufen am 17.01.2025).
- Anna-Christine Weirich, Stimmen aus Klapperfeld, in: Hinterland 41 (2019), S. 55–58, https://www.hinterland-magazin.de/wp-content/uploads/2019/04/Hinterland-Magazin_41-46.pdf (abgerufen am 17.01.2025).