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„Sie hört aus der Tiefe des Wassers Stimmen, die in verschiedenen Sprachen beten.“

Dady de Maximo Mwicira-Mitalis Autobiographie und der Genozid in Ruanda, Ruanda o.D. (Paris 2021)

Text: Anne D. Peiter

Dady de Maximo Mwicira-Mitalis: Rwanda, un deuil impossible. Effacement et traces [Rwanda, die unmögliche Trauer. Auslöschung und Spuren]. Éditions Classiques Garnier, Paris 2021, Auszüge übersetzt von A. Peiter.
Dady de Maximo Mwicira-Mitalis: Rwanda, un deuil impossible. Effacement et traces [Rwanda, die unmögliche Trauer. Auslöschung und Spuren]. Éditions Classiques Garnier, Paris 2021, Auszüge übersetzt von Anne D. Peiter.
Dady de Maximo Mwicira-Mitalis: Rwanda, un deuil impossible. Effacement et traces [Rwanda, die unmögliche Trauer. Auslöschung und Spuren]. Éditions Classiques Garnier, Paris 2021, Auszüge übersetzt von Anne D. Peiter.
Dady de Maximo Mwicira-Mitalis: Rwanda, un deuil impossible. Effacement et traces [Rwanda, die unmögliche Trauer. Auslöschung und Spuren]. Éditions Classiques Garnier, Paris 2021, Auszüge übersetzt von Anne D. Peiter.
Dady de Maximo Mwicira-Mitalis: Rwanda, un deuil impossible. Effacement et traces [Rwanda, die unmögliche Trauer. Auslöschung und Spuren]. Éditions Classiques Garnier, Paris 2021, Auszüge übersetzt von Anne D. Peiter.
Dady de Maximo Mwicira-Mitalis: Rwanda, un deuil impossible. Effacement et traces [Rwanda, die unmögliche Trauer. Auslöschung und Spuren]. Éditions Classiques Garnier, Paris 2021, Auszüge übersetzt von Anne D. Peiter.
Dady de Maximo Mwicira-Mitalis: Rwanda, un deuil impossible. Effacement et traces [Rwanda, die unmögliche Trauer. Auslöschung und Spuren]. Éditions Classiques Garnier, Paris 2021, Auszüge übersetzt von Anne D. Peiter.

Der Geno­zid an den Tut­si Ruan­das, des­sen Beginn sich im April 2024 zum 30. Mal gejährt hat, ist das Ergeb­nis einer lan­gen Geschich­te der Radi­ka­li­sie­rung, die mit der so genann­ten „Hutu-Revo­lu­ti­on“ des Jah­res 1959 zu einem ers­ten Höhe­punkt gefun­den hat­te.1 Drei Begrif­fe waren schon in vor­ko­lo­nia­len Zei­ten benutzt wor­den: „Hutu“, „Tut­si“ und „Twa“. Gemeint waren drei unter­schied­li­che Berufs­grup­pen, zwi­schen denen eine sozia­le Mobi­li­tät exis­tier­te. Die ers­ten Kolonialist:innen ver­stan­den die Zusam­men­set­zung der ruan­di­schen Gesell­schaft jedoch ganz falsch, sodass aus die­sen Begrif­fen star­re Kate­go­rien gemacht wur­den: Die gan­ze Gefähr­lich­keit des Begriffs der „Eth­nie“ (oder „Ras­se“) zeich­ne­te sich bereits hier ab. Die all­mäh­li­che Eth­no­ge­nese – d.h. eth­ni­sche Sepa­rie­rung und Auf­tei­lung – der ruan­di­schen Bevöl­ke­rung, die seit Mit­te der 1890er Jah­re erst durch die deut­sche, nach dem Ers­ten Welt­krieg dann durch die bel­gi­sche Kolo­ni­al­macht suk­zes­si­ve in die Men­ta­li­tä­ten der ruan­di­schen Bevöl­ke­rung ein­ge­speist wor­den war, zeig­te hier erst­mals ihr gan­zes Gewalt­po­ten­zi­al.2

Das, was die Kolonialist:innen an Kate­go­rien anwand­ten, um ihren eige­nen Blick auf die frem­de Gesell­schaft zu „ord­nen“, kor­re­lier­te mit der Ver­ga­be von Pri­vi­le­gi­en. Die Tut­si waren in einer ers­ten Pha­se die­je­ni­gen, die in jeder Hin­sicht bevor­zugt wur­den. In einem zwei­ten Schritt erfolg­te, weil die Hutu, die die gro­ße Mehr­heit der Bevöl­ke­rung dar­stell­ten, sich als unter­wor­fen und unter­drückt erleb­ten, der gewalt­sa­me Umschlag: 1959 kam es zu Mas­sa­kern, Plün­de­run­gen, Brand­stif­tun­gen, vor allen Din­gen aber zu einer Poli­tik der sys­te­ma­ti­schen Ver­trei­bung, durch die schät­zungs­wei­se 336.000 Tut­si das Land ver­las­sen muss­ten. Grund für die­se Gewalt war die Behaup­tung, die Tut­si gehör­ten in Wirk­lich­keit nicht zu Ruan­da. Die­se absur­den Ursprungs­theo­rien gin­gen eben­falls auf die anthro­po­lo­gi­schen Annah­men der Kolonialist:innen zurück und mach­ten aus den Tut­si eine zwei­te „Kolo­ni­al­macht“: Ruan­da sei, so mein­ten die Hutu-Extre­mis­ten, nicht nur von den Deut­schen und Bel­gi­ern kolo­nia­li­siert wor­den, son­dern zuvor auch schon von der „feu­da­len Schicht“ der Tut­si, die unmög­lich als „Ein­hei­mi­sche“ aner­kannt wer­den dürf­ten. Folg­lich sah man in ihnen eine bevor­zug­te Ober­schicht von eth­nisch klar unter­schie­de­nem Cha­rak­ter. Hass und Sepa­rie­run­gen nah­men hier wei­ter Form an.

Die gewalt­för­mi­ge Eska­la­ti­on von 1959 stell­te zudem den Beginn für kom­ple­xe, migra­ti­ons­ge­schicht­li­che Kon­flik­te dar, die für die Ermög­li­chung des spä­te­ren Geno­zids eine wich­ti­ge Rol­le spie­len soll­ten. Es lässt sich fest­stel­len, dass sich über die Jahr­zehn­te (und mit klar defi­nier­ba­ren „Höhe­punk­ten“ wie etwa der Ver­fol­gungs­wel­le des Jah­res 1973 und der mit ihr ein­her­ge­hen­de Macht­über­nah­me durch den neu­en Prä­si­den­ten Juvé­nal Haby­ari­ma­na) ein „Gewalt­wis­sen“ ergab, das von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on wei­ter­ge­ge­ben wur­de. Die meis­ten Täter:innen blie­ben unbe­straft, so dass sich peu à peu eine Bana­li­sie­rung von Tötun­gen, Plün­de­run­gen und Ver­ge­wal­ti­gun­gen her­aus­bil­de­te. Tut­si-Fami­li­en das Leben zu neh­men, wur­de zu etwas „Nor­ma­lem“ oder gar zu einem „natio­na­len Verdienst“.

Das bei­lie­gen­de Selbst­zeug­nis ent­spricht der Auto­bio­gra­phie eines über­le­ben­den Tut­si. Dady de Maxi­mo Mwi­ci­ra-Mit­a­li, der im Geno­zid des Jah­res 1994 als Zwölf­jäh­ri­ger durch eine gro­ße Grup­pe von Erwach­se­nen ver­ge­wal­tigt wur­de, ver­fügt fami­li­en­ge­schicht­lich bedingt über ein prä­zi­ses Wis­sen bezüg­lich der Gewalt-Kon­ti­nui­tä­ten zwi­schen den ver­schie­de­nen Jahr­zehn­ten. In sei­nem Text Rwan­da, un deuil impos­si­ble. Effa­ce­ment et traces3, der 2021 in fran­zö­si­scher Spra­che von Flo­rence Prud­hom­me her­aus­ge­ge­ben wur­de, bezieht er sich kei­nes­wegs nur auf sei­ne eige­nen Erfah­run­gen. Viel­mehr sieht er sich als Teil­ha­ber einer lan­gen, inter­ge­ne­ra­tio­nel­len Ket­te von Ver­fol­gung, die not­wen­dig zum Ver­gleich ein­lädt. Cha­rak­te­ris­tisch für sein Zeug­nis ist der Umstand, dass er zwi­schen dem Schick­sal sei­ner Groß­el­tern und Eltern in ande­ren Gewalt­si­tua­tio­nen, die vor sei­ner Geburt statt­ge­fun­den hat­ten, und sei­ner eige­nen Erfah­rung mit dem Geno­zid hin- und her­springt. Sei­ne eige­ne Stim­me trifft auf die von älte­ren Per­so­nen mit ande­ren, vor­he­ri­gen Erfah­run­gen. Er erzählt also nicht nur von sich, son­dern gibt auch wie­der, was ande­re Men­schen ihm erzähl­ten. Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft gehen folg­lich eine Ein­heit ein. Dass die zeit­li­che Ori­en­tie­rung im Text nicht immer ein­fach ist, ist so Kon­se­quenz der Rea­li­tä­ten – und nicht etwa ein Zei­chen für die Unfä­hig­keit des Erzählers.

Im Fol­gen­den soll anhand von Mwi­ci­ra-Mit­a­lis Zeug­nis der Fra­ge nach Brü­chen und Kon­ti­nui­tä­ten der geno­zi­da­len Gewalt in Ruan­da nach­ge­gan­gen werden.

Da die deutsch­spra­chi­ge For­schung zum Geno­zid an den Tut­si weit weni­ger aus­ge­prägt ist als die fran­ko­pho­ne und auch der deut­sche Buch­markt bis­her kaum auf ein an die­ser Kata­stro­phe inter­es­sier­tes Publi­kum zäh­len kann4, soll am Bei­spiel des genann­ten Tex­tes ein Bewusst­sein für die Viel­falt der Auto­bio­gra­phien geweckt wer­den, die in fran­zö­si­scher Spra­che vor­lie­gen. Es wäre not­wen­dig, wei­te­re Tex­te ins Deut­sche zu über­set­zen und auf die­se Wei­se die Fra­ge anzu­re­gen, war­um sich die Bun­des­re­pu­blik 1994 nicht in der Lage gezeigt hat­te, dem prä­ven­ti­ven Anspruch des Rufs „Nie wie­der Ausch­witz!“5 Rech­nung zu tra­gen und sich inner­halb der Ver­ein­ten Natio­nen ent­schie­den für ein Ein­grei­fen gegen den Völ­ker­mord ein­zu­set­zen. Ist nicht bis heu­te eine Ver­bin­dung zwi­schen Kolo­ni­al­ver­ges­sen­heit und der aus­ge­blie­be­nen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Schei­tern der Gewalt­ver­hin­de­rung fest­zu­stel­len? Gera­de in der For­schung scheint die Not­wen­dig­keit zu bestehen, einen erin­ne­rungs­po­li­tisch moti­vier­ten Neu­an­fang zu wagen.

Es kommt die Not­wen­dig­keit hin­zu, einer durch die west­li­che Pres­se stark ver­brei­te­ten Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on ent­ge­gen­zu­tre­ten. Als ab dem 6. April 1994 der Geno­zid sei­nen Anfang nahm, sahen vie­le deut­sche Journalist:innen dar­in nicht mehr als das Ergeb­nis „jahr­hun­der­te­al­ter Stam­mes­feh­den“ oder „tri­ba­ler Kon­flik­te“. Aus dem Geno­zid wur­de auf ras­sis­ti­sche Wei­se ein gleich­sam natur­ge­ge­be­nes Ereig­nis gemacht, das auf einen „typisch afri­ka­ni­schen Blut­rausch“ zurück­ge­führt wer­den müs­se. Die kom­ple­xe Geschich­te, die zum Geno­zid geführt hat­te, wur­de nicht erkannt und die Gefahr, die von der Beschleu­ni­gung aus­ging, mit der der Mord­ap­pa­rat sei­ne „Arbeit“ auf­nahm, unter­schätzt. Ras­sis­ti­sche Ste­reo­ty­pen über die ver­meint­li­che „Geschichts­lo­sig­keit“ des afri­ka­ni­schen Kon­ti­nents bewirk­ten, dass in Deutsch­land auch im Danach des Geno­zids kaum eine Refle­xi­on über die prä­zi­sen Etap­pen, die zu die­ser Kata­stro­phe geführt hat­ten, in Gang kam.

Inso­fern stellt das vor­lie­gen­de Selbst­zeug­nis eine wich­ti­ge Aus­gangs­ba­sis dar, um zu ver­ste­hen, dass es ers­te Anzei­chen für die schie­re Mög­lich­keit eines Geno­zids schon Jahr­zehn­te vor dem Jahr 1994 gege­ben hat­te. Mwi­ci­ra-Mit­a­li zeigt, dass die schu­li­sche ras­sis­ti­sche Dis­kri­mi­nie­rung, die Kin­der aus Tut­si-Fami­li­en erlit­ten, nicht ein­fach aus dem Nichts kam.6 Es wird auch deut­lich, dass das Ziel, sämt­li­che Tut­si zu ver­nich­ten, durch die ver­schwö­rungs-mythi­sche Idee, die Min­der­heit kön­ne der Mehr­heit, also den Hutu, ans Leben wol­len, Kon­tu­ren annahm. Das Hin­zu­tre­ten des 1990 begin­nen­den Bür­ger­kriegs reich­te aus, um die Gewalt zu eska­lie­ren.7

Mwi­ci­ra-Mit­a­lis Text ist außer­dem wich­tig, weil er das Bewusst­sein für bestimm­te Gewalt­prak­ti­ken schärft. Er wagt es, mit einem Tabu zu bre­chen, das vie­le Über­le­ben­den nach ihrer Befrei­ung8 durch die Exilar­mee der FPR (Front patrio­tique rwan­dais, d.h. die „Ruan­di­sche Patrio­ti­sche Front“, RPF) dar­an gehin­dert hat, von der Gewalt zu erzäh­len, die ihnen wider­fah­ren war.9 Gemeint sind die Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen, von denen in ers­ter Linie Frau­en, jun­ge Mäd­chen und weib­li­che Klein­kin­der betrof­fen waren. Mwi­ci­ra-Mit­a­lis Bei­spiel zeigt, dass Jun­gen eben­so betrof­fen sein konn­ten. Vie­le die­ser Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fer wur­den von den Tätern bewusst mit HIV infi­ziert. Selbst wenn sie den Geno­zid über­leb­ten, star­ben vie­le von ihnen kur­ze Zeit spä­ter an den Fol­gen der Krank­heit. Die aus den Ver­ge­wal­ti­gun­gen her­vor­ge­gan­ge­nen Kin­der sahen sich oft aus der Gesell­schaft aus­ge­schlos­sen. Das glei­che Stig­ma betraf auch vie­le Frau­en, die zu Sex-Skla­vin­nen gemacht wor­den waren.10

Getö­tet wur­de 1994 nicht nur durch die extre­mis­ti­sche Hutu-Miliz der Inter­aham­we, die moder­ne Waf­fen und Fahr­zeu­ge zur Ver­fü­gung hat­te. Auch zivi­le Akteur:innen aus der oft bäu­er­li­chen Bevöl­ke­rung waren maß­geb­lich, gleich­sam „von unten“, an der Ver­nich­tungs­po­li­tik betei­ligt.11 Gerät­schaf­ten, die bis dahin im Kon­text der Feld­ar­beit ver­wen­det wor­den waren, wan­del­ten sich in Mord­werk­zeu­ge. Die sys­te­ma­ti­sche Ver­tei­lung von Mache­ten, Stich­waf­fen und ande­ren, zum Töten „geeig­ne­ten“ Werk­zeu­gen war neben auf­hei­zen­den Radio-Sen­dun­gen im Vor­feld des Geno­zids von Sei­ten des Staa­tes orga­ni­siert wor­den.12

So ent­stand die mate­ri­el­le Grund­la­ge für eine wei­te­re Tötungs-Art, die bei Mwi­ci­ra-Mit­a­li im Zen­trum steht: Er berich­tet, dass die Opfer immer wie­der zu Flüs­sen und Seen getrie­ben wor­den sei­en, um dort ertränkt zu wer­den. Gan­ze Fami­li­en und Vertreter:innen aller Alters­grup­pen wur­den gna­den­los ins Was­ser gezwun­gen, oft ver­letzt, halb­tot oder mit Stei­nen um den Hals.13

Der ideo­lo­gi­sche Hin­ter­grund für die­se Gewalt­form ist von sei­nen Ursprün­gen her in der Kolo­ni­al­zeit zu fin­den. Die Scher­gen, die im Ange­sicht der Flüs­se die phan­tas­ma­go­rische Idee der „Abkür­zung“ und des „Zurück­schi­ckens“ ver­brei­te­ten, waren der Über­zeu­gung, es gel­te die Tut­si, die ver­meint­lich „frem­den Ursprungs“ sei­en, in ihre „Hei­mat“ „zurück­zu­be­för­dern“.14 Die Idee, die Tut­si könn­ten unmög­lich zu Afri­ka gehö­ren, hat­te sich durch die euro­päi­schen Kolonisator:innen aus­ge­brei­tet. Den Deut­schen wie den Bel­gi­ern erschie­nen die Tut­si als beein­dru­cken­de Ober­schicht von „gebo­re­nen Her­ren­men­schen“, auf die man sich bei der kolo­nia­len Herr­schaft zu stüt­zen habe. Ähn­lich wie im Anti­se­mi­tis­mus (aus dem übri­gens der Anti­tutsis­mus vie­le Moti­ve über­nahm) grun­dier­ten eine impli­zi­te Angst und das Gefühl, den Tut­si unter­le­gen zu sein, die ras­sis­ti­schen Kon­zep­tio­nen der Kolonisator:innen.15 Wäh­rend der anti-schwar­ze Ras­sis­mus von einer „natur­ge­ge­be­nen“ Unter­le­gen­heit der Afrikaner:innen aus­geht, wer­den in Anti­se­mi­tis­mus und Anti­tutsis­mus die Phan­tas­men aus­ge­brei­tet, wie man sich gegen die „gar zu intel­li­gen­te“, „gar zu ein­fluss­rei­che“, „gar zu star­ke“ Min­der­heit einer Men­schen­grup­pe weh­ren kön­ne, die wesent­lich über­le­gen sei. Der soge­nann­te Hami­ten-Mythos schrieb den Tut­si Wan­de­rungs­be­we­gun­gen aus Abes­si­ni­en, Ägyp­ten, wenn nicht gar aus Tibet zu. Dass im Früh­jahr und Som­mer 1994 die ruan­di­schen Flüs­se voll mit Toten waren und sich ugan­di­sche Fischer über einen Zeit­raum von drei Mona­ten gezwun­gen sahen, für die­se Unzahl von ange­schwemm­ten Opfern aus dem Nach­bar­land zu Lei­chen­be­stat­tern zu wer­den, ver­weist auf den bestim­men­den Ein­fluss, den die Spra­che und die mit ihrer Hil­fe ver­brei­te­ten Geschichts- und Iden­ti­täts­kon­struk­te auf das Han­deln neh­men können.

In die­ser Hin­sicht aber darf die euro­päi­sche Kolo­ni­al­ge­schich­te von der Geschich­te des Geno­zids nicht getrennt wer­den.16 Viel­mehr soll­te der Tat­sa­che Rech­nung getra­gen wer­den, dass die deut­schen Kolonisator:innen zwar kei­nen Geno­zid plan­ten als sie die ruan­di­sche Bevöl­ke­rung in drei Grup­pen kate­go­ri­sier­ten, dass ihre ras­sis­ti­schen Kon­zep­te lang­fris­tig jedoch nicht ohne Fol­gen blie­ben. Inso­fern regt Mwi­ci­ra-Mit­a­lis Zeug­nis dazu an, die Beschäf­ti­gung mit kolo­ni­al­ge­schicht­li­chen Fra­gen nicht von der Geno­zid­for­schung zu tren­nen, son­dern bei­de in ihrer Ver­flech­tung zu betrachten.

Referenzen

  1. Einen Über­blick über die ruan­di­sche Geschich­te vom Kolo­nia­lis­mus bis in die Gegen­wart bie­tet: Anne D. Pei­ter, Der Geno­zid an den Tut­si Ruan­das. Von den kolo­nia­len Ursprün­gen bis in die Gegen­wart, Mar­burg 2024.
  2. Genaue­res dazu in: Anne D. Pei­ter, Die Eth­no­ge­nese und der Tut­si­zid in Ruan­da. Über­le­gun­gen zum kolo­nia­len Erbe mit Blick auf die deut­sche Kolo­ni­al­fo­to­gra­fie, in: Zeit­ge­schich­te digi­tal, hrsg. vom Leib­niz-Zen­trum für zeit­his­to­ri­sche For­schung, 2024.
  3. Auf Deutsch: Ruan­da, die unmög­li­che Trau­er. Aus­lö­schung und Spu­ren. Die Über­set­zung der fol­gen­den Aus­zü­ge stammt von der Autorin.
  4. Der Blick auf den deutsch­spra­chi­gen Buch­markt reicht aus, um eine deut­li­che Dif­fe­renz gegen­über dem fran­zö­sisch­spra­chi­gen fest­zu­stel­len. Auto­bio­gra­phien, die in gro­ßer Zahl auf Fran­zö­sisch vor­lie­gen, sind nur in sel­te­nen Aus­nah­me­fäl­len ins Deut­sche über­tra­gen wor­den. Auch die deut­sche For­schung hat sich nur wenig mit Ruan­da beschäf­tigt. Wäh­rend auf der Stra­ße vor dem Pari­ser „Mémo­ri­al de la Sho­ah“ in die­sem Jahr eine Gedenk-Aus­stel­lung zum 30. Jah­res­tag des Geno­zids zu sehen war, hat es in deut­schen Gedenk­stät­ten kein ent­spre­chen­des Pro­jekt gege­ben. Der feh­len­den Auf­ar­bei­tung der Geschich­te des Kolo­nia­lis­mus des Deut­schen Kai­ser­reichs in Ruan­da ent­spricht also irri­tie­ren­der­wei­se zugleich auch die feh­len­de Auf­ar­bei­tung bezüg­lich des Genozids.
  5. Oder wie Theo­dor W. Ador­no in Erzie­hung nach Ausch­witz (1966) for­mu­lier­te: „Den­ken und Han­deln so ein­zu­rich­ten, dass Ausch­witz sich nicht wie­der­ho­le, nichts ähn­li­ches geschehe.“
  6. Wel­che Aus­wir­kun­gen die schu­li­sche Unter­drü­ckung in Bezug auf das Ver­hält­nis zwi­schen Eltern und ihren Kin­dern hat­te wird unter­sucht in: Anne D. Pei­ter, „Bei­spiel­los Bei­spiel­haf­tes. Zu Vor­bil­dern in auto­bio­gra­phi­schen Erin­ne­rungs­tex­ten von Über­le­ben­den der Sho­ah und des Tut­si­zids in Ruan­da“, in: André Schütte/Jürgen Niel­sen-Siko­ra (Hrsg.), Wem fol­gen? Über Sinn, Wan­del und Aktua­li­tät von Vor­bil­dern, Ber­lin 2023, S. 169–184.
  7. Wie der His­to­ri­ker Raul Hil­berg mit Blick auf die Sho­ah betont hat, ist es nicht nur schwie­rig, son­dern viel­leicht sogar unmög­lich, „hin­rei­chen­de Grün­de“ zu nen­nen, die erklä­ren, war­um ein Geno­zid mög­lich wird. Je wei­ter man in die Details vor­dringt, des­to unfass­li­cher wird das, was geschah. Den­noch kann man zusam­men­fas­send sagen, dass es vie­ler­lei Fak­to­ren gab, die den Weg zur Mas­sen­ge­walt ebne­ten. Da ist zum einen die Gewöh­nung an die Gewalt, die durch Jahr­zehn­te hin­durch ein­ge­übt wur­de. Kol­lek­ti­ve Ängs­te und Ver­schwö­rungs­my­then, die in den Aus­land­stut­si eine exis­ten­ti­el­le Gefahr sahen, wur­den von den Hutu-Extre­mis­ten auf die Nachbar:innen im eige­nen Land über­tra­gen und erhöh­ten die Gewalt­be­reit­schaft. Die öko­no­mi­sche Kri­se der spä­ten 1980er Jahr trat als zusätz­li­cher Fak­tor hin­zu. Ent­schei­dend war außer­dem der Bür­ger­krieg, der die Behaup­tung ermög­lich­te, die Hutu sei­en die eigent­li­chen Opfer einer Bedro­hung und die Tötung von Babys und Unge­bo­re­nen nichts ande­res als der Ver­such zur „Selbst­ret­tung“. – Zur Fra­ge nach dem „War­um“ von Geno­zi­den vgl.: Anne D. Pei­ter, Geno­zi­de und die Fra­ge nach dem ‚War­um?‘ Kom­pa­ra­tis­ti­sche Über­le­gun­gen zum Kon­zept der ‚extre­men Grund­lo­sig­keit‘ in auto­bio­gra­phi­schen Zeug­nis­sen von Über­le­ben­den der Sho­ah und des Tut­si­zids, in: dive-in 2023, 3 (1).
  8. Zur Befrei­ung vgl.: Anne D. Pei­ter, Zur Dar­stel­lung von Krieg und Befrei­ung von auto­bio­gra­phi­schen Zeug­nis­sen von Über­le­ben­den der Sho­ah und des Tut­si­zids, in: Lite­ra­tur im Unter­richt. Tex­te der Gegen­warts­li­te­ra­tur für die Schu­le 24 (2), 2023, S. 181–194.
  9. Bei der RPF han­del­te es sich um eine Orga­ni­sa­ti­on, die mit mili­tä­ri­schen Mit­teln das Recht der Ver­trie­be­nen durch­set­zen woll­te, wie­der ins Land kom­men zu dürfen.
  10. Eine wei­te­re Tötungs­me­tho­de bestand in der bewuss­ten Ver­nach­läs­si­gung, was Hun­ger und Durst impli­zier­te. Dazu: Anne D. Pei­ter, Faim, soif, géno­ci­de. Réfle­xi­ons sur quel­ques auto­bio­gra­phies écri­tes par des res­ca­pés du Tut­si­ci­de au Rwand, in: Flo­rence Mag­not-Ogil­vy (Hrsg.), Les spec­tres de la faim. [im Erscheinen]
  11. Dazu Genaue­res in: Anne D. Pei­ter, Der All­tag des Tötens. Der Tut­si­zid in Ruan­da als „land­wirt­schaft­li­cher Geno­zid“ im Spie­gel von Jean Hatz­felds Täter-Inter­views, in: Wie­ner digi­ta­le Review 2024. Ein­schlä­gig für die­se Fra­ge ist auch: Anne D Pei­ter, „C‘était devenu un aller-de-soi“. Red­un­dan­te Recht­fer­ti­gungs­stra­te­gien in auto­bio­gra­phi­schen Zeug­nis­sen von Tätern im Rück­blick auf den Geno­zid an den Tut­si 1994, in: Alex­an­der Fischer/Mathis Les­sau (Hrsg.), Recht­fer­ti­gungs­spie­le. Über das Recht­fer­ti­gen und Über­zeu­gen in hete­ro­do­xen Wis­sens­dis­kur­sen, Mün­chen 2024, S. 127–157.
  12. Zur Dehu­ma­ni­sie­rung und Ani­ma­li­sie­rung durch das Hass-Radio und sei­ne Rezep­ti­on in der Hutu-Bevöl­ke­rung vgl.: Anne D. Pei­ter, Invek­ti­ven im Geno­zid. Zu Zeug­nis­sen von über­le­ben­den Tut­si, in: Heid­run D. Kämper/Simon Mei­er-Viera­cker/In­go H. Warn­ke, Invec­ti­ve dis­cour­se, Ber­lin 2023, S. 149–175.
  13. Zur Schuld­ab­wehr und Ver­drän­gung der Täter:innen nach dem Geno­zid vgl.: Anne D. Pei­ter, „Tau­sche abge­büß­te Haft gegen kom­plet­te Ent­schul­dung“. Aus­hand­lun­gen von Schuld und Ver­ge­bung in Jean Hatz­felds „Une sai­son de machet­tes“, in: Indes. Zeit­schrift für Poli­tik und Gesell­schaft, Heft 4 (= Gesell­schaft und Gefäng­nis), 2023, S. 89–98
  14. Anne D. Pei­ter, Migra­ti­on – Krieg – Geno­zid. Zur Migra­ti­ons­er­fah­rung in auto­bio­gra­fi­schen Tex­ten von Über­le­ben­den des Geno­zids an den Tut­si Ruan­das, in: Archiv für Sozi­al­ge­schich­te 64, S. 317–338.
  15. Sol­che The­sen zeig­ten sich auch an der Benen­nung eines Damp­fers, der in der Wei­ma­rer Repu­blik vom Sta­pel lief und auf den Namen „Watus­si“ (= Plu­ral­form von Tut­si) getauft wur­de. In die­ser Pha­se des Kolo­ni­al­re­vi­sio­nis­mus soll­te durch den Namen die Über­le­gen­heit, die Ele­ganz, der Reich­tum und die Inter­na­tio­na­li­tät der Tut­si her­aus­ge­stellt wer­den. Vgl. dazu: Anne D. Pei­ter, Die Watus­si auf dem Was­ser. Über­le­gun­gen zu kultur‑, foto­gra­fie- und lite­ra­tur­ge­schicht­li­chen Quel­len eines Schiffs­na­mens und sei­ner eth­ni­fi­zie­ren­den Aus­deu­tung, in: Nord­el­bin­gen. Bei­trä­ge zur Geschich­te der Kunst und Kul­tur, Lite­ra­tur und Musik in Schleswig-Holstein.
  16. Zum all­ge­mei­nen Kon­text des Kolo­nia­lis­mus und sei­ner lang­fris­ti­gen, his­to­ri­schen Ein­ord­nung: Anne D. Pei­ter, Träu­me der Gewalt. Stu­di­en der Unver­hält­nis­mä­ßig­keit zu Tex­ten, Fil­men und Foto­gra­fien. Natio­nal­so­zia­lis­mus – Kolo­nia­lis­mus – Kal­ter Krieg, Bie­le­feld 2019.
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