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„Ein Unrecht ist und bleibt doch wohl das, was man uns unserer Rasse wegen antat […]“

Der Kampf um Anerkennung von NS-Verfolgung deutscher Sinti und Roma anhand der Entschädigungsakte O. A., Westdeutschland 1949–1988

Text: Leonard Stöcklein

Bereits in den 1950er und 1960er Jah­ren – vor der bun­des­weit orga­ni­sier­ten Bür­ger­rechts­be­we­gung – ver­such­ten deut­sche Sin­ti und Roma1 die indi­vi­du­el­le Aner­ken­nung ihrer NS-Ver­fol­gung sowie finan­zi­el­le Hil­fen vor den Ent­schä­di­gungs­be­hör­den der BRD ein­zu­for­dern. Über­lie­fer­te Akten zei­gen, dass Sin­ti und Roma in der unmit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit nicht nur ohn­mäch­ti­ge Opfer waren, son­dern ihre Rech­te mit der Unter­stüt­zung von Aus­schüs­sen und Anwäl­ten erkämpften.

Anhand der Ent­schä­di­gungs­ak­te des als „Zigeu­ner­mi­sch­ling“ ver­folg­ten O. A. lässt sich ein dif­fe­ren­zier­tes Urteil über die kom­ple­xe Ent­schä­di­gungs­pra­xis gegen­über zwangs­ste­ri­li­sier­ten deut­schen Sin­ti und Roma fäl­len, das weder dem pau­scha­li­sie­ren­den Nar­ra­tiv eines sys­te­ma­ti­schen Aus­schlus­ses der Min­der­heit von Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen in den 1950er Jah­ren ent­spricht, noch die hohen Hür­den und Dis­kri­mi­nie­run­gen, mit denen die Über­le­ben­den durch Geset­zes­la­gen und die Hand­lungs­spiel­räu­me aus­füh­ren­der Behör­den­mit­ar­bei­ter kon­fron­tiert waren, rela­ti­viert.Anhand der Ein­ga­ben A.s soll die Per­spek­ti­ve der Ver­folg­ten gegen­über einer oft­mals empa­thie­lo­sen Ent­schä­di­gungs­pra­xis, wel­che die Glaub­wür­dig­keit der Aus­sa­gen in Abre­de stell­te, im rechts- und men­ta­li­täts­ge­schicht­li­chen Kon­text quel­len­kri­tisch vor­ge­stellt wer­den.3

Ver­fol­gungs­schick­sal

O. A. wur­de am 19. Dezem­ber 1907 in Hüls bei Kre­feld gebo­ren. Er war bis 1943 Bau­hilfs­ar­bei­ter und hat­te vier Kin­der. Am 6. Dezem­ber 1943 wur­de A. nach der vor­he­ri­gen natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Fremd­ka­te­go­ri­sie­rung als „Zigeu­ner­mi­sch­ling“ im Zwangs­la­ger für Sin­ti und Roma in Schnei­de­mühl (Piła, Polen), ehe­ma­lig West­preu­ßen-Posen, zwangs­ste­ri­li­siert. Der deut­sche Selbst­schutz errich­te­te die­se „Sam­mel­stel­le für Zigeu­ner“ in West­preu­ßen kurz nach dem Über­fall auf Polen im Okto­ber 1939.4 Für das Jahr 1943 und 1944 sind wei­te­re an „Zigeu­ner­mi­sch­lin­gen“ ver­üb­te Zwangs­ste­ri­li­sa­tio­nen in Schnei­de­mühl bekannt. Die­se waren seit 1943 ein sys­te­ma­ti­sches Mit­tel des Geno­zids der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Rasseforscher:innen und Kri­mi­nal­po­li­zei gegen­über Sin­ti und Roma, die in den Augen der Täter:innen als „sozi­al ange­pass­te Zigeu­ner­mi­sch­lin­ge“ gal­ten.5 Ob O. A. nach der Ste­ri­li­sa­ti­on von wei­te­ren Ver­fol­gungs­maß­nah­men betrof­fen war, wie lan­ge er in Schnei­de­mühl inhaf­tiert war und wie er die Befrei­ung vom Natio­nal­so­zia­lis­mus erleb­te, dar­über geben die Akten kei­ne Auskunft.

For­ma­le Anerkennung

O. A. mach­te sei­ne Ansprü­che in der Früh­pha­se der Ent­schä­di­gungs­pra­xis im Über­gang von Rege­lun­gen der alli­ier­ten Besat­zungs­zo­nen und den ab 1953 ver­ab­schie­de­ten bun­des­ein­heit­li­chen Ent­schä­di­gungs­ge­set­zen gel­tend. In den Besat­zungs­zo­nen waren durch die Opfer orga­ni­sier­te Kreis­aus­schüs­se, bei denen die Über­le­ben­den vor­stel­lig wur­den, für die Aner­ken­nung zustän­dig.O. A. gab vor dem Aus­schuss in Kem­pen an, dass er am 6. Dezem­ber 1943 zwangs­ste­ri­li­siert wor­den sei, was eine Min­de­rung sei­ner Erwerbs­fä­hig­keit von 50% zur Fol­ge hät­te. Am 28. Janu­ar 1949 wur­de O. A. als ras­sisch ver­folg­ter zwangs­ste­ri­li­sier­ter „Zigeu­ner­mi­sch­ling“ mit der Aus­weis­num­mer 171 for­mal aner­kannt.7

Schlüs­sel­fak­tor der Ent­schä­di­gung nach 1945: Die Arbeits­fä­hig­keit des Opfers

Am 6. März 1950 stell­te O. A. nach dem Gesetz der bri­ti­schen Zone von 1947 mit sei­nem Aus­weis als ras­sisch Ver­folg­ter einen Antrag auf Beschä­dig­ten­ren­te an die Behör­de für Unfall­ver­si­che­rung des Lan­des Nord­rhein-West­fa­len, Son­der­ab­tei­lung für Opfer des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ter­rors. Als Fol­gen der Ste­ri­li­sa­ti­on gab A. im Antrag die Beschä­di­gung sei­ner Geschlechts­or­ga­ne, Kopf- und Rücken­schmer­zen und eine Ner­ven­er­kran­kung an. Obwohl A. amt­lich als ras­sisch Ver­folg­ter aner­kannt war, wur­de eine Ent­schä­di­gung dadurch erschwert, dass der erlit­te­ne Scha­den an Kör­per und Gesund­heit gesetz­lich an die Min­de­rung der Erwerbs­fä­hig­keit gekop­pelt war. Für einen posi­ti­ven Bescheid war nicht das ver­fol­gungs­be­ding­te kör­per­li­che Lei­den maß­ge­bend, son­dern inwie­weit die­ses Lei­den in der Ein­schät­zung des medi­zi­ni­schen Gut­ach­ters die Arbeits­fä­hig­keit beein­träch­tig­te. Bei der Bestim­mung des Gra­des der Min­de­rung der Erwerbs­fä­hig­keit nah­men Gut­ach­ter eine Schlüs­sel­funk­ti­on ein. Sie nah­men Schät­zun­gen anhand von Erfah­rungs­sät­zen vor. Dem­nach war ihr Ermes­sens­spiel­raum sehr hoch.8 Wenn Amts­ärz­te die Min­de­rung der Erwerbs­fä­hig­keit nied­ri­ger als 25% ein­schätz­ten, hat­te dies für die Opfer einen nega­ti­ven Aus­gang ihres Antrags zur Fol­ge. In der Ver­wal­tungs­pra­xis wur­den Zwangs­ste­ri­li­sa­tio­nen regel­mä­ßig mit einer Min­de­rung der Erwerbs­fä­hig­keit von 0% ange­ge­ben.9

O. A. hat­te sich am 2. April 1951, ein Jahr nach sei­ner Antrag­stel­lung, auf Anwei­sung der Behör­de einer zwei­stün­di­gen medi­zi­ni­schen Begut­ach­tung in den städ­ti­schen Kli­ni­ken zu unter­zie­hen. Nach der Unter­su­chung kam der Arzt zu fol­gen­dem Schluss:

„Außer den Zei­chen einer ganz gerin­gen Arthro­sis der Wir­bel­säu­le, die zwei­fels­oh­ne schick­sals­be­dingt ist, sind krank­haf­te Ver­än­de­run­gen als Fol­ge der Ste­ri­li­sa­ti­on sicher nicht nach­zu­wei­sen.“10

Obwohl O. A. bei sei­nem Arzt­be­such täg­lich star­ke Schmer­zen im Leis­ten- und Rücken­be­reich angab, leg­te der Gut­ach­ter die Min­de­rung der Erwerbs­fä­hig­keit auf 0% fest. Nach wei­te­ren vier Mona­ten erhielt er eine Ableh­nung sei­ner Ansprü­che durch den Sach­be­ar­bei­ter, der sich wort­wört­lich auf das ärzt­li­che Gut­ach­ten stützte.

Gerech­ter Kampf gegen Windmühlen

Doch O. A. gab nicht auf und leg­te ohne Unter­stüt­zung eines Anwalts am 20. Sep­tem­ber 1951 Beschwer­de gegen die­se Ent­schei­dung ein:

[…] „Obwohl es mir gänz­lich unver­ständ­lich ist, dass die Aerz­te­kom­mis­si­on den Ren­ten­an­trag ein­fach abtut mit dem Bemer­ken, dass es sich um kei­nen Scha­den an Kör­per oder Gesund­heit han­de­le, kann ich mir als Laie dar­über natür­lich kein Urteil erlau­ben, noch viel weni­ger bin ich dazu in der Lage, dem Urteil der Aerz­te gegen­über­zu­tre­ten.“11

Er drück­te sein Unver­ständ­nis über die Ent­schei­dung aus, stell­te das Urteil der Ärz­te jedoch zunächst nicht grund­sätz­lich in Fra­ge, um dar­auf­hin sein indi­vi­du­el­les Schick­sal in die Gesamt­um­stän­de des Völ­ker­mor­des deut­scher Sin­ti und Roma ein­zu­ord­nen und Kla­ge zu erheben:

„In ihrem Sin­ne ist es dann wohl ganz rich­tig gewe­sen, dass die Gesta­po es damals nicht genug sein liess, uns jah­re­lang ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger zu sper­ren, son­dern dass wir oben­drein auch noch unse­rer Ras­se wegen ste­ri­li­siert wur­den. Ihre Ableh­nung spricht nun aller­dings nur von den Fol­gen der Ste­ri­li­sa­ti­on, wohin­ge­gen den Beschwer­den, die auf mei­ne lan­ge K.-Z. Haft zurück­zu­füh­ren sind, kei­ner­lei Erwäh­nung getan wird. Es dürf­te wohl jedem erklär­lich sein, dass eine zwei­jäh­ri­ge Inhaf­tie­rung, zumal eine sol­che wie die K.Z.-Haft, kei­nes­falls in den Klei­dern sit­zen bleibt, son­dern sich auf irgend­ei­ne Art und Wei­se bemerk­bar macht und kei­nes­falls ohne ernst­li­che Fol­gen bleibt.“12

Auf­grund feh­len­der Täter­do­ku­men­te lässt sich nicht rekon­stru­ie­ren, ob A. allein oder mit sei­ner gesam­ten Fami­lie depor­tiert wor­den war. Es ist auch mög­lich, dass die Fami­lie bereits auf­grund des Ver­fol­gungs­drucks nach West­preu­ßen gegan­gen und anschlie­ßend dort inhaf­tiert wur­de. Als natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Haft­stät­te im Sin­ne der Bun­des­ent­schä­di­gungs­ge­set­ze ist das Lager bis heu­te nicht aner­kannt. Mit Beschwer­den, die auf die lan­ge KZ-Haft zurück­zu­füh­ren sei­en, nahm O. A. ins­be­son­de­re Bezug auf die Arthro­sis, die der medi­zi­ni­sche Gut­ach­ter als sol­che auch als schick­sals­be­dingt fest­hielt, jedoch in sein Urteil bezüg­lich der Min­de­rung der Erwerbs­fä­hig­keit nicht ein­flie­ßen ließ. O. A. leg­te das Auf­tre­ten des Arz­tes, der sei­ne Lei­den bei der Begut­ach­tung rela­ti­vier­te, offen:

„Ich habe auch den unter­su­chen­den Arzt sei­ner­zeit auf die­se Beschwer­den auf­merk­sam gemacht, wor­auf die­ser mit einem iro­ni­schen Lächeln bemerk­te, dass er die­sel­ben Beschwer­den habe. Auf mei­ne höf­li­che Fra­ge, ob er denn auch im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gewe­sen sei, erhielt ich kei­ne Ant­wort, jedoch sag­te mir das höh­ni­sche Grin­sen, dass mei­ne Annah­me total fehl am Plat­ze war. Kei­ne Ant­wort ist ja bekannt­lich auch eine Ant­wort.“13

A. ord­ne­te in der Fol­ge das zyni­sche Ver­hal­ten des Arz­tes in den gesell­schafts- und men­ta­li­täts­his­to­ri­schen Kon­text der frü­hen 1950er Jah­re kurz nach der Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik ein, die von natio­nal­so­zia­lis­ti­schem Gedan­ken­gut kei­nes­wegs befreit war:

„Lei­der Got­tes gibt es auch heu­te noch genug Deut­sche, die selbst der tota­le Zusam­men­bruchs Deutsch­land noch nicht hat bekeh­ren kön­nen, alle Men­schen als gleich­wer­tig zu betrach­ten, son­dern die auch heu­te noch von dem Gedan­ken der Ras­sen­rein­heit beses­sen sind und auch heu­te noch die Ver­fol­gun­gen der Juden und Zigeu­ner wäh­rend des Nazi­re­gimes als rich­tig anse­hen. […] Wir haben wohl auch genug gelit­ten, sodass es eigent­lich wohl für jeden anstän­di­gen Men­schen eine Selbst­ver­ständ­lich­keit sein dürf­te, die­ses Unrecht eini­ger­mas­sen wie­der aus­zu­glei­chen und nicht alles dar­an zu set­zen, um eine Wie­der­gut­ma­chung her­um zu kom­men. Ein Unrecht ist und bleibt doch wohl das, was man uns unse­rer Ras­se wegen antat, dar­an ändert selbst ihre Geset­ze nichts. Ich möch­te Sie daher bit­ten, mei­nen Antrag auf Beschä­dig­ten­ren­te noch­mals einer Prü­fung zu unter­zie­hen.“14

O. A. steht exem­pla­risch für tau­sen­de deut­sche Sin­ti und Roma, die das gesell­schafts­po­li­tisch vor­herr­schen­de Nar­ra­tiv einer selbst­ver­schul­de­ten Ver­fol­gung auf­grund angeb­li­cher „Kri­mi­na­li­tät“ und „Aso­zia­li­tät“ durch eige­ne Beweis­füh­rung zu wider­le­gen such­ten, um eine Aner­ken­nung vor den Wie­der­gut­ma­chungs­be­hör­den zu erreichen.
A. Beschwer­de erziel­te Wir­kung: Die Behör­de ließ eine zwei­te amts­ärzt­li­che Unter­su­chung anord­nen, der sich O. A. ein hal­bes Jahr spä­ter am 21. März 1952 unter­zie­hen muss­te. Qua Gesetz hät­te die Behör­de der rein for­ma­len Beschwer­de nicht nach­kom­men müssen.

Der zwei­te Arzt urteil­te jedoch hin­sicht­lich der Min­de­rung der Erwerbs­fä­hig­keit in der Sache eben­so wie der vor­he­ri­ge. Nicht weni­ger unbe­fan­gen ver­harm­los­te er in zeit­ty­pi­scher Manier nicht nur die aus der Ver­fol­gung erwach­se­nen psy­chi­schen Lei­den A.s, son­dern bedien­te anti­zi­ga­nis­ti­sche Topoi des „fau­len und trieb­ge­steu­er­ten Zigeu­ners“. Er unter­stell­te A., dass die­ser „stark ren­ten­fi­xiert“15 auf Geld aus sei. Zudem habe der gestei­ger­te Geschlechts­trieb A. mit der Ste­ri­li­sie­rung nichts zu tun, son­dern sei „kon­sti­tu­ti­ons- bezw. ras­se­be­dingt“.16 Ob die mit dem Schick­sal von O. A. betrau­ten Ärz­te – wie in ande­ren Fäl­len nach­ge­wie­sen – durch natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­bre­chen, gar gegen­über deut­schen Sin­ti und Roma, vor­be­las­tet waren, lie­ße sich nur anhand wei­te­rer pro­so­po­gra­fi­scher For­schun­gen beant­wor­ten.17 Auf Grund­la­ge des zwei­ten ärzt­li­chen Gut­ach­tens lehn­te der Beschwer­de­aus­schuss der Lan­des­ren­ten­be­hör­de den Antrag erneut ab.

Die Ver­ab­schie­dung des ers­ten bun­des­ein­heit­li­chen Ent­schä­di­gungs­ge­set­zes (BErG) im Sep­tem­ber 1953 nahm Ort­win A. zum Anlass, beim neu geschaf­fe­nen Amt für Wie­der­gut­ma­chung einen drit­ten Antrag zu stellen:

„Ich möch­te noch ein­mal aus­drück­lich dar­auf auf­merk­sam machen, dass die Ste­ri­li­sie­rung nur aus ras­si­schen und kei­nes­falls aus ande­ren Grün­den erfolg­te, wofür die Beweis­mit­tel ja bei ihnen bezw. In der Regie­rung vor­lie­gen.“18

Herr A. beton­te bewusst die „ras­si­schen“ Grün­de für die Ste­ri­li­sa­ti­on. Men­schen, die zwi­schen 1933 und 1945 auf Grund­la­ge des „Geset­zes zur Ver­hü­tung erb­kran­ken Nach­wuch­ses von Juli 1933“ ste­ri­li­siert wor­den waren, wur­den vom Ent­schä­di­gungs­ge­setz sys­te­ma­tisch aus­ge­schlos­sen, da die Jus­tiz das Gesetz nicht als genu­in natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Ver­fol­gungs­maß­nah­me wer­te­te.19 Die­se rechts­po­si­ti­vis­ti­sche Aus­le­gung stand in der Tra­di­ti­on der „Erb­ge­sund­heits­leh­re“, wel­che die Opfer aber­mals in „ech­te“ und „unech­te“ Opfer kate­go­ri­sier­te. Sin­ti und Roma, denen Rich­ter und Ärz­te als ver­meint­li­che Dia­gno­se regel­mä­ßig „ange­bo­re­nen Schwach­sinn“ auf­grund ihrer „fremd­ras­si­gen Min­der­wer­tig­keit“ unter­stell­ten, sei­en somit „recht­mä­ßig“ ste­ri­li­siert wor­den.20

Die von der Jus­tiz nach 1945 gezo­ge­ne Gren­ze zwi­schen „recht­mä­ßig“ und „unrecht­mä­ßig“ Ste­ri­li­sier­ten, ver­kann­te jedoch die ras­sen­hy­gie­nisch moti­vier­te Ver­fol­gungs­pra­xis gegen­über Sin­ti und Roma. Die Reichs­kri­mi­nal­po­li­zei ver­pflich­te­te die­sel­ben Kran­ken­häu­ser und Ärz­te, die schon nach dem „Gesetz zur Ver­hü­tung erb­kran­ken Nach­wuch­ses“ Ste­ri­li­sa­tio­nen vor­ge­nom­men hat­ten, um Ein­grif­fe an Sin­ti und Roma vor­zu­neh­men und dies sodann den Gesund­heits­äm­tern und den ört­li­chen Kri­mi­nal­po­li­zei­leit­stel­len zu mel­den.21 Von einer „recht­mä­ßi­gen“ Ste­ri­li­sa­ti­on konn­te nicht die Rede sein. Am 2. August 1955 wur­de A.s Antrag erneut abge­lehnt. Die Begrün­dung des zustän­di­gen Sach­be­ar­bei­ters viel knapp aus, unter­schied sich kaum vom ers­ten Urteil und stell­te fest, dass „die ärzt­li­chen Bera­ter abschlie­ßend fest­stell­ten, dass die Ste­ri­li­sa­ti­on bei dem Antrag­stel­ler einen mess­ba­ren Kör­per­scha­den im Sin­ne des Geset­zes nicht hin­ter­las­sen hat.“22 Eine von Herrn A. zuvor am 15. Juli 1955 ein­ge­brach­te ärzt­li­che Beschei­ni­gung eines Fach­arz­tes bräch­te nach Ansicht des Sach­be­ar­bei­ters eben­so kei­ne Tat­sa­chen vor, die eine Ent­schä­di­gung recht­fer­ti­gen würden.

Durch­bruch durch anwalt­li­chen Vortrag

O. A. mach­te wei­ter. Er ließ sich aber nun das ers­te Mal von Rechts­an­walt Dr. Kurt Stern­feld ver­tre­ten. Der Anwalt gab gegen­über der Behör­de an, dass A. wegen der Fol­gen der Zwangs­ste­ri­li­sa­ti­on zwi­schen 1953 und 1956 sein Wan­der­ge­wer­be als Tex­til­händ­ler aus gesund­heit­li­chen Grün­den immer wie­der unter­bre­chen muss­te. Die anwalt­li­che Unter­stüt­zung zei­tig­te Erfolg, wenn­gleich die genau­en Grün­de auf­grund nicht ermit­tel­ba­rer Doku­men­te in der Ent­schä­di­gungs­ak­te nicht zu erschlie­ßen sind.

Am 1. Juni 1957, sie­ben Jah­re nach sei­nem ers­ten Antrag, erhielt O. A. einen posi­ti­ven Bescheid von der Lan­des­ren­ten­be­hör­de NRW in Form einer monat­li­chen Ren­te in Höhe von 120 DM, begrün­det durch eine ver­fol­gungs­be­ding­te Min­de­rung der Erwerbs­fä­hig­keit von 30%, die durch die Zwangs­ste­ri­li­sa­ti­on ver­ur­sacht wor­den sei.23 Am 27. Juli 1988 ver­starb O. A. Ein Jahr vor sei­nem Tod ersuch­te er die Lan­des­ren­ten­be­hör­de mit einem hand­schrift­li­chen Brief um eine Erhö­hung sei­ner Ren­te auf den Satz einer Alters­min­dest­ren­te. Die Lan­des­ren­ten­be­hör­de lehn­te dies mit der Begrün­dung ab, dass gemäß Ent­schä­di­gungs­ge­setz die­se Ansprü­che nur von den­je­ni­gen erho­ben wer­den könn­ten, die vor dem 1. Janu­ar 1905 gebo­ren wor­den sei­en. Da A. 1907 gebo­ren wor­den war, wur­de der Antrag abge­lehnt.24

Referenzen

  1. Vom Gen­dern des Begriffs­paa­res im Plu­ral sieht der Autor in die­sem Bei­trag ab. Sin­ti und Roma wird hier als Sam­mel­be­zeich­nung für deut­sche Ange­hö­ri­gen der Min­der­heit unab­hän­gig von ihrer jewei­li­gen geschlecht­li­chen Zuge­hö­rig­keit ver­wen­det. Die­se Sam­mel­be­zeich­nung ent­stammt der selbst gewähl­ten Bezeich­nung der Bür­ger­rechts­be­we­gung deut­scher Sin­ti und Roma.
  2. Sie­he auch den Bei­trag von: Joey Rau­schen­ber­ger, Behörd­li­che Hand­lungs­spiel­räu­me im demo­kra­ti­schen Rechts­staat oder: War­um zwangs­ste­ri­li­sier­te Sin­ti trotz ähn­li­cher Ver­fol­gungs­schick­sa­le nach 1945 unter­schied­lich ent­schä­digt wur­den, www.ns-kontinuitäten-bw.de (abge­ru­fen am 27.05.2024).
  3. Die Ent­schä­di­gungs­ak­te O. A.s ist Teil der Samm­lung des Ver­ban­des Deut­scher Sin­ti und Roma – Lan­des­ver­band Bay­ern e.V., wel­cher seit den 1990er Jah­ren Ange­hö­ri­gen der Min­der­heit in Ent­schä­di­gungs­ver­fah­ren recht­li­chen Bei­stand leis­tet. Der Bestand wird in einem Pro­jekt bis Dezem­ber 2025 digi­ta­li­siert und für eine geschichts­di­dak­ti­sche Publi­ka­ti­on nach wis­sen­schaft­li­chen Maß­stä­ben aus­ge­wer­tet. Im Fol­gen­den wird die Akte zitiert als „LVSR-A-O-1_je­wei­li­ge Nummern“.
  4. Unmit­tel­bar nach dem Über­fall auf Polen 1939 rekru­tier­te die SS für den „Volks­deut­schen Selbst­schutz“ zehn­tau­sen­de wehr­fä­hi­ge Ange­hö­ri­ge der deut­schen Min­der­heit in Polen. Zim­mer­mann, Micha­el, Ras­sen­uto­pie und Geno­zid. Die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche „Lösung der Zigeu­ner­fra­ge“, Ham­burg 1996, S. 277.
  5. Ebd., S. 359–362.
  6. Joey Rau­schen­ber­ger, Wie­der­gut­ma­chung, in: Enzy­klo­pä­die des NS-Völ­ker­mor­des an den Sin­ti und Roma in Euro­pa. Hrsg. von Karo­la Fings, For­schungs­stel­le Anti­zi­ga­nis­mus an der Uni­ver­si­tät Hei­del­berg, Hei­del­berg 15. Febru­ar 2024.
  7. LVSR-A-O-1_0040.
  8. Bun­des­mi­nis­ter der Finan­zen in Zusam­men­ar­beit mit Wal­ter Schwarz (Hrsg.), Die Wie­der­gut­ma­chung natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unrechts durch die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Band IV, Das Bun­des­ent­schä­di­gungs­ge­setz, Ers­ter Teil (§§1 bis 50 BEG), Bonn/München/Zürich 1981, S. 384.
  9. Ebd., S. 211.
  10. LVSR-A-O-1_0034.
  11. LVSR-A-O-1_0033.
  12. Ebd.
  13. Ebd.
  14. Ebd.
  15. LVSR-A-O-1_0029–0032.
  16. Ebd.
  17. Arnold Spit­ta, Ent­schä­di­gung für Zigeu­ner? Geschich­te eines Vor­ur­teils, in: Ludolf Herbst/Constantin Gosch­ler (Hrsg.), Wie­der­gut­ma­chung in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Mün­chen 1989, S. 385–401, hier S. 391.
  18. LVSR-A-O-1_0027.
  19. Karo­la Fings/Ulrich F. Opfer­mann (Hrsg.), Zigeu­ner­ver­fol­gung im Rhein­land und in West­fa­len 1933–1945. Geschich­te, Auf­ar­bei­tung und Erin­ne­rung, Pader­born 2012, S. 330.
  20. Hans­jörg Rie­chert, Die Zwangs­ste­ri­li­sa­ti­on reichs­deut­scher Sin­ti und Roma nach dem „Gesetz zur Ver­hü­tung erb­kran­ken Nach­wuch­ses“ vom 14. Juli 1933, in: Dlug­obor­ski, Waclaw (Hrsg.): Sin­ti und Roma im KL Ausch­witz-Bir­ken­au 1943–1944 vor dem Hin­ter­grund ihrer Ver­fol­gung unter der Nazi­herr­schaft, Ausch­witz-Bir­ken­au 1998, S. 58–75, hier S. 71f.
  21. Zim­mer­mann, Ras­sen­uto­pie und Geno­zid, S. 358f.
  22. LVSR-A-O-1_0024.
  23. LVSR-A-O-1_0007.
  24. LVSR-A-O‑1.
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