Postkarten waren zeitweise die einzige legale Möglichkeit einer Kontaktaufnahme außerhalb des Ghettos Litzmannstadt. Dort hielt die deutsche Besatzungsmacht mehr als 160.000 jüdische Menschen zwischen 1940 und 1945 fest. Das Schreiben von Postkarten war für die im Ghetto Eingesperrten von großer Bedeutung. Nicht nur stellten diese die einzige Möglichkeit einer Bitte um überlebensnotwendige Sendungen von Geld oder Lebensmitteln dar. Vielmehr boten die Nachrichten auf den Postkarten emotionalen Halt in einer völlig lebensfeindlichen Umgebung. Sie gaben den Menschen zumindest zeitweise das Empfinden, nicht vollständig von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Im Ghetto Litzmannstadt hielten die deutschen Besatzer jüdische Menschen vor allem aus Polen und dem deutschsprachigen Raum fest. Zigtausende wurden vor Ort aufgrund der katastrophalen Bedingungen um ihr Leben gebracht, von den Nationalsozialist:innen zu anderen Orten zur Zwangsarbeit verschleppt oder im Vernichtungslager Kulmhof oder Auschwitz-Birkenau ermordet.
Im Staatsarchiv Łódź befinden sich 22.100 Postkarten, die von Festgehaltenen im Ghetto Litzmannstadt geschrieben wurden, ihr Bestimmungsziel aber nie erreichten. Seit dem Jahr 2012 ist der Bestand in digitalisierter, frei zugänglicher Form einsehbar.1 Ein Großteil dieser Karten ist an die Herkunftsorte der Menschen adressiert, die seit Oktober 1941 aus dem sogenannten Altreich, Wien, Prag und Luxemburg in das Ghetto deportiert worden waren. Datiert sind die Postkarten vorwiegend auf den Zeitraum zwischen November 1941 und Februar 1942. Bereits im Januar 1942 griff eine zweijährige Postsperre. Aufgrund dessen war für die Festgehaltenen im Ghetto bis Mai 1944 ein legaler Kontakt nach außen nicht möglich.2 Zum Teil unterlagen die aus dem „Deutschen Reich” Deportierten anderen Bestimmungen als die noch weitaus größere Zahl der zumeist polnisch-jüdischen Menschen, die im Ghetto Litzmannstadt ebenfalls festgehalten worden waren.
Von der 49-jährigen Lehrerin Henriette Arndt sind in dem Bestand der nichtversendeten Postkarten im Staatsarchiv Łódź zwei Karten erhalten. Am 25. Oktober 1941 wurde Arndt aus Hamburg in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Es war eine der ersten systematischen Deportationen von Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich in das deutsch besetzte östliche Europa. Am 15. Mai 1892 in Regenswalde in Pommern geboren, zog es Henriette Arndt 1914 in die Hansestadt. Dort war sie bis zur Machtübernahme der NSDAP im öffentlichen Schuldienst als Lehrerin tätig.
Nach einem Berufsverbot im Jahr 1933 wurde für Henriette Arndt die Lebenssituation unter zunehmender Verfolgung immer schwieriger. Wiederholt musste sie ihre Arbeitsstelle und ihren Wohnort wechseln. Ab 1938 war sie sogar an einer jüdischen Volksschule in Lübeck tätig, wohin sie täglich aus Hamburg pendelte. Im April 1940 schloss auch diese Schule. Henriette Arndt entschied sich für eine Emigration nach England, welche Hamburger Behörden jedoch ablehnten. Bis zu ihrer Deportation arbeitete Arndt an der Israelitischen Töchterschule in Hamburg, welche bereits mit der Talmud-Tora-Schule zusammengelegt worden war.3 Nach Erhalt des Deportationsbefehls zum 25. Oktober 1941 trat Henriette Arndt ohne Angehörige den Transport mit einem für sie unbekannten Ziel an. Eine kurze Ehe mit dem Hamburger Kaufmann Friedrich Kirchhoff war zu diesem Zeitpunkt längst geschieden.4 Aus ihrem alten Leben gerissen, fand sich Arndt im Ghetto in einer für sie völlig fremden und lebensbedrohlichen Umgebung wieder. In verschmutzten Sammelunterkünften und ohne adäquate sanitäre Anlagen musste sie sich ihren (Un-)Alltag organisieren. Sprachbarrieren und gegenseitige Vorurteile erschwerten das Zusammenleben in der polnisch-deutsch-jüdischen Zwangsgemeinschaft des Ghettos.
Zum Zeitpunkt der Ankunft des Hamburger Transportes im Oktober 1941 existierte das Ghetto Litzmannstadt bereits zwei Jahre. Das Thema Post war dabei von Beginn an Teil der Geschichte des Ghettos, welche die jüdische Selbstverwaltung unter großer Anstrengung organisierte.5 Dem Postwesen kam dabei nicht nur für die interne Organisation der jüdischen Selbstverwaltung eine zentrale Funktion zu.6 Vielmehr ermöglichte es zunächst den polnischen Jüdinnen und Juden in Litzmannstadt einen Kontakt zu Angehörigen und Bekannten außerhalb des Ghettos und die Möglichkeit des Erbetens dringend notwendiger Geld- und Lebensmittelzusendungen. Die Ausgestaltung des Postwesens der jüdischen Verwaltung stand dabei stets in vollständiger Abhängigkeit zu den Vorgaben der deutschen Ghettoverwaltung.
Die insgesamt 20.000 Menschen, die ab Oktober 1941 aus Deutschland, Österreich, Luxemburg sowie Böhmen und Mähren ins Ghetto Litzmannstadt verschleppt wurden, waren zunächst von der Nutzung des Postverkehrs gänzlich ausgeschlossen.7 Davon betroffen war auch Henriette Arndt, die gemeinsam mit 1.033 weiteren Kindern, Frauen und Männern aus Hamburg das Ghetto erreichte. Unmittelbar nach der Ankunft war es ihnen – und damit auch Henriette Arndt – nicht möglich, Kontakt mit Angehörigen und Bekannten aufzunehmen.
Die Aufhebung dieser Postsperre durch die deutsche Ghetto-Verwaltung erfolgte am 4. Dezember 1941, über sechs Wochen nach der Ankunft. Der Postverkehr war im Folgenden verbunden mit strengen Auflagen. Für die ab Oktober 1941 ins Ghetto Deportierten war ausschließlich der Versand von Postkarten zugelassen. Persönliche Nachrichten waren erlaubt, jegliche Schilderungen über die dortigen lebensfeindlichen Umstände ihres Aufenthaltsortes waren hingegen streng verboten. Die Postkarten mussten in deutscher Sprache verfasst und, nach dem Verständnis der deutschen Ghetto-Verwaltung, deutlich und lesbar geschrieben sein. Ein umfassendes Kontrollsystem überprüfte das Einhalten dieser strengen Vorgaben.8
Die Postkarte der Hamburgerin Henriette Arndt scheint diesen Vorgaben nicht entsprochen zu haben. Möglicherweise überstieg sie auch die zugelassenen Kontingente ausgehender Post aus dem Ghetto. Verschiedene Nummern auf der Karte bezeugen eine Bearbeitung durch Mitarbeitende der Ghetto-Post. Frankiert wurde die Postkarte jedoch nicht und ist somit nie in den ausgehenden Postverkehr gelangt. Arndt wird vermutlich nie erfahren haben, dass die Postkarte ihren Bestimmungsort nicht erreicht hatte.
Adressiert war die Postkarte an ihre nichtjüdische Freundin Charlotte Beug in Hamburg. Sie zeigt eindrücklich die Sehnsucht Arndts nach einem gewaltsam zurückgelassenen und geliebten Menschen: „Denke an unser gegenseitiges Versprechen beim Abschied. Guckst Du jeden Abend zu den Sternen hinauf und denkst an mich. Das habe ich bis jetzt jeden Abend getan gegen neun Uhr. Ich bin in Gedanken immer bei Dir und das bleibt.“9 Die Nachricht zeugt von einer tiefen Verbindung der beiden Frauen, die nicht nur beide Lehrerinnen waren, sondern auch zeitweilig in Hamburg zusammenwohnten und gemeinsam Urlaub machten. Einen dieser Urlaube verbrachten die beiden Frauen auch in Arndts Geburtsstadt Regenswalde.10
Die nichtversendte Postkarte offenbart damit wahrscheinlich Zeugnis einer queeren jüdischen Perspektive, die in der Historiografie nationalsozialistischer Deportationen und des Holocaust erst zuletzt mehr Beachtung erfährt.11 „Ich schreibe noch eine Karte an Dich und hoffe, dadurch innerlich zur Ruhe zu kommen. […] Ich möchte täglich von dir hören. Immer bin ich bei Dir”12, schreibt Arndt in einer weiteren Karte an ihre Freundin. Auch diese kam jedoch in Hamburg nie an. Es ist das letzte schriftliche Lebenszeichen von Henriette Arndt. Deutsche SS-Angehörige ermordeten sie im Mai 1942 im Vernichtungslager Kulmhof. Arndts vermutete Partnerin Charlotte Beug erfuhr davon jedoch erst nach Kriegsende.
In den geschichtswissenschaftlichen Forschungen über den Nationalsozialismus und Holocaust haben Postkarten als Selbstzeugnisse bislang wenig Beachtung erfahren. Ein Großteil geschichtswissenschaftlicher Analysen in diesem Kontext stammt aus dem Umfeld der Philatelie, welche sich in der Regel außeruniversitär organisiert und vorrangig mit Bestandteilen postalischer Dokumente, wie Briefmarken, Stempel oder Briefumschlägen auseinandersetzt.
Neben zahlreichen überlieferten Formen von Selbstzeugnissen aus dem Ghetto Litzmannstadt, wie zum Beispiel Tagebücher, bilden Postkarten jedoch eine eigene Textsorte mit spezifischen Charakteristika und Bedeutungen für ihre Verfasser:innen.13 Durch das beschränkte Format mussten die zu versendeten Nachrichten kurz gehalten sein. Auch das Wissen um Mitlesen Dritter durch die Zensurstellen der jüdischen und deutschen Verwaltung prägte die Schreibpraxis der einzelnen Karten. Dennoch war es im Ghetto – zumindest zeitweise – eine legale Möglichkeit, sich Familienangehörigen oder Freund:innen mitzuteilen. Der Bestand der Postkarten aus dem Staatsarchiv Łódź offenbart dadurch intime Einblicke in die Gefühle und Wahrnehmungen ihrer Verfasserinnen und Verfasser, ihrer Ängste und Sehnsüchte. Dies in einem größeren Umfang und systematisch zu analysieren, steht noch aus.14
Referenzen
- Archiwum Państwowe w Łodzi (APŁ), Sig.39/278/0/30/2316 bis 39÷278÷0÷30÷2323.
- Vgl. Manfred Schulze; Stefan Petriuk: Unsere Arbeit – unsere Hoffnung. Getto Lodz 1940–1945. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation des Post- und Geldwesens im Lager Litzmannstadt, Schwalmtal 1995, S. 65.
- Vgl. Christiane Pritzlaff: Henriette Arndt. Eine jüdische Lehrerin in Hamburg, in: „Den Himmel zu pflanzen und die Erde zu gründen.“ Die Joseph-Carlebach-Konferenzen. Jüdischen Leben. Erziehung und Wissenschaft, Miriam Gillis-Carlebach und Wolfgang Grünberg (Hrsg.), Hamburg 1995, S. 225–237, hier S. 230.
- Ebd., S. 226.
- Vgl. Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, 2. Aufl., Göttingen 2010, S. 146 f.
- Vgl. Schulze: Unsere Arbeit – unsere Hoffnung, S. 23.
- Ebd., S. 38.
- Vgl. Hannelore Steinert, „Ich bin noch immer ohne Nachricht von Dir …“ Beschlagnahmte Post im Getto Litzmannstadt 1940–1944, in: Angelika Brechtelmacher/ Bertrand Perz/ Regina Wonisch (Hrsg.): Post 41. Berichte aus dem Getto Litzmannstadt: ein Gedenkbuch, Wien 2015, S. 161–184, hier S. 167.
- Postkarte Henriette Arndt an Charlotte Beug, 5.12.1941, APŁ, Sig. 39_278_0_30_2318.
- Vgl. https://www.stolpersteine-hamburg.de/?&MAIN_ID=7&BIO_ID=1473. Für den Austausch danken die Autor:innen Dr. Alexander Reinfeldt (Bickenbach); vgl. Pritzlaff: Henriette Arndt. Eine jüdische Lehrerin in Hamburg, S. 230.
- Siehe Anna Hájková: Menschen ohne Geschichte sind Staub. Homophobie und Holocaust, Göttingen 2021; Anna Hájková, Den Holocaust queer erzählen, Sexualitäten Jahrbuch 2018, S. 86–110.
- Postkarte Henriette Arndt an Charlotte Beug, 9.12.1942, APŁ, Sig. 39÷278÷0÷30÷2318.
- Vgl. Angelika Brechtelmacher: Postkarten aus dem Getto Litzmannstadt, in: Angelika Brechtelmacher / Bertrand Perz / Regina Wonisch (Hrsg.): Post 41. Berichte aus dem Getto Litzmannstadt: ein Gedenkbuch, Wien 2015, S. 185–220, hier S. 187.
- Zu Hamburg übernahmen dies zuletzt die Autor:innen. Siehe hierzu das Ausstellungsprojekt (letzte) Lebenszeichen – Postkarten aus Zielorten nationalsozialistischer Deportationen aus Hamburg und Norddeutschland der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen (Letzte) Lebenszeichen (gedenkstaetten-hamburg.de) sowie Sarah Grandke/Johanna Schmied: (Letzte) Lebenszeichen – Vom Recherchieren und Ausstellen „Hamburger Postkarten” aus dem Ghetto Litzmannstadt, in: Isolation – Konzentration – Deportation. Regionale Studien zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, hrsg. Erinnerungsort Alter Schlachthof, Berlin (im Erscheinen).